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Toronto – Die Kunst des guten Lebens

Kann eine Stadt eine internationale Metropole sein, ein glamouröses
Shopping-Paradies und gleichzeitig ein sympathisches Dorf mit überwiegend fröhlichen Menschen? Toronto schon.  
Text: Harald Braun

Toronto ist anders.

Das spürt man an vielen Orten. Und zwar schnell. Im alternativen Kensington Market etwa, wenn man in einem Café namens Wanda‘s Pie in the Sky von ganzkörpertätowierten Kellnern selbst gebackenen Kuchen serviert bekommt und freundlich nach seiner Herkunft gefragt wird. Wenn einem in der nostalgischen St. Lawrence Markthalle der Stadt in der Carousel Bakery das berühmte Peameal Bacon on a Bun quasi aufgedrängt wird, weil man noch nie davon gehört hat – als Geschenk natürlich. Oder auch, wenn man in seinem Hotel The Drake im angesagten Szeneviertel West Queen West dem ausverkauften Konzert einer krassen Coverband zuhört und ein einheimischer Besucher, mit dem man zufällig ins Gespräch kommt, ungläubig fragt: »Das Drake ist ein Hotel, das echte Zimmer vermietet?« Es stellt sich heraus: Er ist ständig hier, aber nicht, um dort zu übernachten: Das Drake ist so etwas wie der kulturelle Dreh- und Angelpunkt des gesamten Viertels. Und seine Terrace-Bar soll legendär sein, um Mädchen kennenzulernen. Spätestens dann merkst du es: Toronto ist anders. Es hat für jeden seiner Gäste und Bewohner seine eigene Wahrheit im Angebot. Und das ist eine richtig gute Nachricht.

Kensington Market ist ein Paradies für Hipster

Kensington Market zum Beispiel war einmal das ehemalige jüdische Viertel, arm und unscheinbar. Heute ist es der Tummelplatz der Kreativen und Unangepassten von Toronto, voller kleiner Kneipen und schräger Boutiquen, mit bezahlbaren Mieten und Restaurants, die jamaikanisch-italienisches Essen anbieten, oder in einem Fall, ernsthaft jetzt: Ungarisch-Thai. Schmeckte allerdings scheußlich, muss ich zugeben, ganz im Gegensatz zum italienischen Jamaikaner! Noch ein Tipp für Menschen, die kulinarisch gerne mal auf schräge Entdeckungs-Trips gehen: Es gibt dort auch einen Fastfood-Anbieter, bei dem süße Waffeln mit Hühnchenfüllung auf der Karte stehen …

CTC

Das Besondere an Kensington Market: In diesen kleinen Straßen mit ihren maximal zweistöckigen Häuschen und dem permanenten Patchouli-Trödelladen-Dunst haben Unternehmen wie Walmart oder Starbucks keine Chance, obwohl sie es immer wieder mal versuchen. Das Viertel gehört wohl zu den wenigen extrem angesagten Stadtteilen weltweit, die den Kampf gegen die sogenannte Gentrifizierung (bisher) gewonnen haben. Es gibt hier sogar eine Bürgervereinigung, Friends of Kensington Market nennt sie sich, die das Viertel mitgestaltet und darüber wacht, dass sein Charakter gewahrt bleibt.

Toronto ist groß genug, um grossartig zu sein

Wenn man mit jungen Torontanians wie dem jungen Schauspieler und Fotografen Mike Carter spricht, hört man immer wieder die gleichen Sätze. »Toronto ist eine weltoffene und tolerante Stadt, dazu hat sie sich in den letzten Jahren noch einmal rasend schnell entwickelt.« Um es vorweg zu sagen: Vier Tage vor Ort reichten nicht, um all das zu sehen und wirklich zu erleben, was Toronto bietet und was einem von seinen freundlichen Einwohners alles empfohlen wird. Deshalb weiß ich jetzt schon, was ich im nächsten Sommer mache …

CN Tour

Um eine Ahnung von den Ausmaßen Torontos zu gewinnen – immerhin mit Umland knapp sieben Millionen Einwohnern stark –, sollte man erst einmal hoch auf den CN Tower düsen, den 553 Meter hohen Fernsehturm der Stadt. Dauert 58 Sekunden und ist ein Erlebnis. Der CN Tower ist Torontos Wahrzeichen, man ist stolz auf das zweithöchste frei stehende Bauwerk der Welt. Nun gut, die Fahrt auf einen Fernsehturm ist üblicherweise nicht gerade ein Geheimtipp. Zwei Millionen Besucher im Jahr tummeln sich in Toronto jährlich auf den Aussichtsplattformen des Turms und im Drehrestaurant auf 351 Metern Höhe. Trotzdem machen, denn der Blick auf den Ontariosee und die Aussicht auf die Skyline Torontos sind beeindruckend. Es wird deutlich, warum Hollywood-Produzenten immer häufiger nach Toronto ausweichen, wenn sie New York simulieren wollen: Toronto sieht, von Weitem betrachtet so aus, wie die amerikanische Metropole. Näher rangezoomt allerdings bemerkt man die feinen, aber entscheidenden Unterschiede, mal ganz abgesehen davon, dass Dreharbeiten in Kanada einfach billiger sind.

Auf ein leckeres Häppchen zum Farmers Market

Nein, erster spürbarer Unterschied: Das Leben in Toronto ist deutlich entspannter. »Der Kanadier ist ein eher relaxter Zeitgenosse«, bestätigt Bruce Bell, ein stets amüsant witzelnder Historiker, der sich in der »Old Town« von Toronto auskennt und so etwas wie der offizielle Chronist des altehrwürdigen St. Lawrence Farmers Markets ist, ehemals das Ratsgebäude der Stadt. Der Markt gehört zu den berühmtesten seiner Art auf der ganzen Welt. Wer hier seine (frischen) Produkte anbietet, hat eine strenge Qualitätskontrolle hinter sich. Wie die Carousel Bakery, die täglich um die 2 500 Peamal Bacon Sandwiche über den Tresen schiebt.

Auch ein zweiter Unterschied wird auf dem Farmers Market zwischen Frischfisch-Theken und gut gefüllten Coffeeshops spürbar: Die Menschen in Toronto sind nicht nur überwiegend entspannt, sie sind auch sehr, sehr freundlich. (Tipp nebenbei: Im Obstzelt neben der historischen Farmersmarkthalle findet jeden Sonntag ein Antikmarkt statt.) Und wir reden hier nicht von der Freundlichkeit des gemeinen Amerikaners, dessen zuweilen formelhafter Überschwang nicht immer ganz authentisch wirkt, es ist anders: Torontanians wirken auf eine lässige, empathische und verbindliche Weise total okay. Vom Taxifahrer bis zur Supermarktkassiererin, jeder hat ein freundliches Wort, ein Lächeln im Angebot. Ein kleines Beispiel nur: Als sich im schicken Einkaufsviertel Yorkville ein teures Auto einem Zebrastreifen nähert und vielleicht einen kurzen Moment zu spät abbremst, kurbelt der Fahrer das Fenster herunter und lässt uns zerknirscht wissen: »Sorry, Leute – ich war einen Moment unkonzentriert!«

Clifton Li

Coole Shops in einer Ehemaligen Whiskey Distellerie

»Total Toronto«, bestätigt Andrew Dobson, ein Blogger und Reisejournalist, der seine Heimatstadt stets auf der Suche nach kulinarischen Neuigkeiten durchstreift. Mit ihm sind wir im Distillery District verabredet, im El Catrin, um präzise zu sein – einem raffiniert gestylten und überaus leckeren Edel-Mexikaner, wie man sie neuerdings immer häufiger antrifft. Der Distillery District war früher einmal ein Ort, aan dem in 44 Rotziegelhallen jährlich fast zehn Millionen Liter Whisky produziert wurden, doch das marode Gelände musste 1990 nach langem Niedergang schließen. 2003 erst entstand hier nach aufwendiger Res­taurierung neues Leben: Galerien, kleine, unabhängige Shops, Kaffeehäuser und Restaurants leben jetzt hier in friedlicher Ko-Existenz zusammen, das Projekt boomt. Auch hier haben Großkonzerne keine Chance, kein Multiplex, kein Starbucks, stattdessen lässige Läden wie das Balzac‘s Coffee, der Klamottenladen Gotstyle oder der verrückte Schuhshop von John Fluevog.

»Die Menschen schauen dir hier offen und freundlich in die Augen, wenn du ihnen auf der Straße begegnest«, behauptet Andrew Dobson. »Das ist der große Unterschied zu Metropolen wie London oder New York.« Worauf das zurückzuführen ist? Dobson zuckt mit den Schultern. »Meine Vermutung: Toronto ist eine sichere Stadt – niemand muss hier ständig vor Freaks und Gewaltverbrechern auf der Hut sein.« Wir schauen uns in El Catrin um: Der Laden ist voll, das Publikum hat seine Wurzeln in der ganzen Welt. Wie überall in Toronto. Touristen? »Nein«, behauptet Dobson, »obwohl der Distillery District ja als Vergnügungsviertel gilt, sind hier hauptsächlich Torontanians unterwegs. Es gibt diesen typischen Toronto-Ureinwohner ja gar nicht, ein ›Ausländer‹ oder Integrationsproblem existiert somit auch nicht. Ich würde tippen, dass die Hälfte der Einwohner nicht in Kanada geboren ist. Toronto ist die multikulturellste Stadt, die ich kenne.«

Kopf Hoch – Unbedingt auf die Architektur Achten

Vermutlich auch eine der tolerantesten. Die dekonstruktivistische, an einen Glaszeppelin erinnernde Art Gallery of Ontario, kurz AGO, würde nicht in vielen Städten auf der Welt mit der gleichen Inbrunst geliebt wie in Toronto. Auch das von außen an die Oper in Sydney erinnernde Royal Ontario Museum in Yorkville beweist, dass der Kanadier keine Angst vor kantiger Architektur im öffentlichen Raum hat.

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Die Bezeichnung West Queen West für eine der interessantesten Nachbarschaften in Toronto ist übrigens keine fehlerhafte Redundanz meinerseits, nein: Die Queen Street West ist halt ziemlich lang, aber nur der westliche Teil davon gilt als der hippe, lebendige Teil der Stadt, in dem sich in den letzten Jahren eine vitale Szene aus Kunst, Kultur und Gastronomie gebildet hat. Tatsächlich stößt man immer wieder auf den Namen Jeff Stober und sein von ihm 2001 erworbenes Drake, wenn von der wunderlichen Verwandlung eines bis dahin eher langweiligen Viertels die Rede ist. Die 19 Zimmer des im charmanten Urban-Slacker-Stil eingerichteten Hotels sind zwar oft ausgebucht, aber als Ort für Lesungen und Konzerte, als Kommunikationszentrale in der Rooftop-Bar und dem eigenen (hervorragenden) Café ist das Drake für Torontos Szene sehr viel wichtiger (siehe oben). »Hier hat eine interessante Szene ein gemeinsames Dach über dem Kopf gefunden«, erklärt Andrew Dobson mir das Phänomen. Apropos: Im Sommer, so behaupteten alle Menschen, die ich in Toronto traf, herrscht in der Stadt eine ganze andere Atmosphäre. Eine, in der Dächer keine Rolle spielen. »Komm im Sommer oder Herbst her«, sagt Andrew Dobson, »wir sind berühmt dafür, nur noch auf der Straße zu leben. Und am Ufer des Ontariosees wird dir Toronto vorkommen wie der schönste Platz der Welt.« Nun, das werden wir sehen. Ganz sicher.

Info

Übernachtung The Drake, lebendiger Mix aus lokalem Szenetreff und lässigem Urban Boutique Hotel, nur 19 unterschiedlich eingerichtete, schicke Zimmer, aber Live-Bühne, Veranstaltungssaal, Dachterrassenbar und hervorragendes Café, DZ ab 135 Euro,  Webseite Drake Hotel

info Das Fremdenverkehrsbüro von Toronto informiert in aller Ausführlichkeit über die touristischen Highlights der Stadt, Restaurants, Unterkünfte und vieles mehr. www.seetorontonow.de

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