Vier Autostunden nördlich von Toronto wartet ein echter Leckerbissen auf Outdoorfans. Der French River ist nämlich nicht nur eines der schönsten Paddelreviere im Osten. Wer hier sein Kanu zu Wasser lässt, paddelt auch durch das actionreichste Kapitel der kanadischen Geschichte! Text: Ole Helmhausen
Auf kanadischen Highways Richtung Horizont zu fahren, ist eine Sache. Auf Kanadas historischstem Wasserweg über Stromschnellen zu reiten, auf denen schon die allermeisten Entdecker Nordamerikas Stoßgebete zum Himmel geschickt haben, eine andere. Gerade jetzt ist es wieder so weit. Noch eine Kurve, das Rauschen ist nun wirklich beängstigend, und da brodeln sie, die Blue Chute Rapids.
Der French River, von steilen Felsenufern in ein enges Korsett mit gehörigem Gefälle gepresst, nimmt Fahrt auf. Wir paddeln aus Leibeskräften rückwärts, um ein paar Extrasekunden zum Scouten der besten Route zu schinden. Dann geben wir Vollgas. Auf einer glatten Zunge, die über das vor uns liegende »Waschbrett« mit anderthalb Meter hohen Wellen leckt, zischen wir hindurch, das brodelnde H²O auf Augenhöhe. Unterhalb der Fälle kurzer Check: alles trocken! Kein einziger Tropfen hat es ins Kanu geschafft!
Die fließende Handelsroute
Was der French River nun mit kanadischen Highways zu tun hat? Ganz einfach: Bis Eisenbahnlinien und Straßen quer durch Kanada gebaut wurden, war der nur 120 Kilometer lange Fluss zwischen Lake Nippissing und Lake Huron das wichtigste Teilstück einer Jahrtausende alten Handelsroute, die den St.-Lorenz-Strom im Osten mit dem Lake Athabasca im Nordwesten verband. Dann kamen die Europäer, zunächst die Franzosen. Die kapierten schnell: Der schnellste Weg zu den lukrativen Pelzen im Westen und Nordwesten führte über den »Rivière des Francais«.
Pelzhändler, Entdecker, Missionare und Soldaten tauchten auf. Die Liste ihrer Namen hält heute ein historischer Marker am Hwy. 69 über dem French River fest. Sie liest sich wie das Nachschlagewerk der Entdeckungsgeschichte Nordamerikas. Den Anfang machte Étienne Brulé. 1610 war er der erste Weiße am Lake Superior.
Weitere folgten: Jean Nicollet, der erste Europäer am Lake Michigan; die Pelzhändler Radisson und des Groseilliers, die den Engländern die Gründung der Hudson Bay Company vorschlugen; de La Salle und Jacques Marquette, die via Great Lakes auf dem Mississippi nach Louisiana paddelten; die Vérendryes, die als erste Weiße die Rocky Mountains sahen; Peter Pond, der die Northwest Territories erkundete; Alexander Mackenzie, der 1793 als erster Weißer den Pazifik auf dem Landweg erreichte; David Thompson, der zwischen 1786 und 1812 beinahe den gesamten Nordwesten kartografierte; und last but not least die frankokanadischen, Voyageurs genannten Pelzhändler, die bis 1820 die 4000 Kilometer zwischen Montréal und Fort Williams, dem heutigen Thunder Bay, in einem Sommer hin und zurück machten – und bis zu 20 Stunden täglich paddelten und 7000 Kalorien dabei verbrannten.
Eine Paddeltour in Ehrfurcht
Wir würden gegen diese Kerle alt aussehen. Auf dem extrem zerfaserten, an eine schwedische Schärenlandschaft mit Inseln, Kanälen und Passagen erinnernden French River machen wir gerade mal 20 Kilometer pro Tag. Wir legen an, wenn uns eine Bucht gefällt, und gehen schwimmen oder angeln. Manche Stromschnellen paddeln wir, andere umgehen wir. Im frankokanadischen Englisch heißen solche Stellen »Portage«: Die Kanus werden über Land an dem Hindernis vorbeigetragen und anschließend wieder zu Wasser gelassen. An manchen Portages sehen wir deutlich, dass auch unsere Vorgänger auf Nummer sicher gingen: Bei den Big Pine Rapids haben Mokassins und Lederstiefel den grauen Granit unter unseren Füßen so blank poliert, dass er wie Speckstein aussieht.
Nein, wir sind beileibe keine Voyageurs! Das Gefühl, in ihrem Kielwasser zu paddeln, ist jedoch erhebend. Vor unserem geistigen Auge sehen wir ganze Kanuflotillen mit verwegenen Gestalten darin vorbeiziehen. Nach Westen beladen mit Tauschwaren für die Ureinwohner, nach Osten randvoll mit wertvollen Fellen. In manchen reisen feine Funktionäre der Montréaler Pelzhandelsgesellschaften, in anderen die abgerissenen Überlebenden der von den Irokesen angerichteten Massaker an den Huronen. Und, und, und. Abends am Lagerfeuer gehen die Geschichten nicht aus …