Auf den Spuren der Haida: Eine Bootstour durch den Gwaii Haanas Nationalpark ist wie eine Reise in eine vergangene Zeit. Von Jörg Michel
Willkommen im pazifischen Regenwald
Irgendwo hier am Ende der Welt hat die Zeit ihren Anfang genommen: Auf einer kleinen Insel, verschleiert im Nebel des pazifischen Regenwaldes. In einer Bucht, übersäht mit glitschigen Kieseln, bunten Seesternen und verwitterten Baumstämmen. Überragt von majestätischen Zeugen einer stolzen Kultur.
Mit einem Schlauchboot nähern wir uns der Insel , die in der Sprache der Haida-Ureinwohner »SGangGwaay« heißt, frei übersetzt, »wo der Wind heult wie eine Frau«. Die Insel ist unbewohnt und gehört zum Gwaii Haanas National Park auf Haida Gwaii, einem sturmgepeitschten Archipel mit 150 Inseln und Inselchen vor British Columbia, das man früher einmal Queen Charlotte Islands genannt hat.
Ausflug mit den Zodiacs
Gekommen sind wir mit einem Zodiac von Morseby Explorers. Wir sind auf einer mehrtägigen Tour durch die Inselwelt von Gwaii Haanas und tragen grüne Regenhosen, Regenjacken und kniehohe Gummistiefel gegen Wind und Wetter. Als wir das Ufer erreichen, steigen ein paar Weißkopfseeadler von den Baumwipfeln auf und kreisen majestätisch über der Bucht.
Ein schlacksiger Mann tritt aus dem Wald und nähert sich dem Strand:
Für uns Haida ist SGangGwaay der Ort der Schöpfung,
erklärt Jordan, der im Sommer auf der Insel als Wachmann arbeitet. Er beschützt dort die fragilen Totempfähle seiner Ahnen, die zum Weltkulturerbe gehören und die meterhoch aus dem Regenwald ragen. Manche sind völlig verwittert und bis zu 400 Jahre alt.
Es lebe die Tradition
Seit über 10.000 Jahren leben die Haida schon auf dem Archipel, auf SGang Gwaay waren es in alten Zeiten einmal 300 Familien. Geblieben von ihrem Dorf sind nur Ruinen, es gibt weder Straßen noch Häuser. Nur eine kleine Wachhütte steht einsam im Wald mit zwei Zimmern, einem Plumpsklo und einem Generator. Ab und zu kommen Gäste wie wir per Wasserflugzeug oder Boot vorbei.
Schon geht es weiter mit dem Zodiac durch den peitschenden Regen, vorbei an wilden Küsten, durch Fjorde und Kanäle. Plötzlich hält das Boot an: Ein Schwarzbär kämmt gerade das Ufer gegenüber ab und schaut neugierig zu uns hinüber. Die Kameras klicken, die Smartphones blitzen, dann verschwindet der Bär im Unterholz.
Willkommen auf T’aanuu
Als wir nach ein paar Stunden die Insel T’aanuu erreichen, hat sich die Sonne durch die Wolken gekämpft und hüllt die Wälder in ein saftiges Grün. An Land wuchern üppige Farne und Gräser, in der Luft liegt der holzig-süßliche Duft von feuchten Zedern.
Am Strand von T’aanuu hilft uns Sean aus dem Boot, ein anderer Haida-Wächter. Sean passt hier auf die Überreste von 40 Langhäusen auf, in denen einmal reiche Haida-Familien lebten. Heute findet man noch ein paar verkeilte Balken im Moos, überwachsen von Efeu und Büschen.
Ein paar Schritte weiter wurde 1998 die Asche von Bill Reid bestattet, dem wohl berühmtestes Haida-Künstler unserer Zeit, dessen Werke in Museen in aller Welt bestaunt werden können.
Die Geschichte der Haida
Wir Haida haben harte Zeiten erlebt, haben aber gelernt, uns zu behaupten,
erzählt Sean. Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Weißen die Pocken auf Haida Gwaii eingeschleppt, von etwa 10.000 Haida überlebten nur 500. Heute leben wieder 2.500 Haida auf dem Archipel, dazu etwa genauso viele weiße Kanadier. Den Gwaii Haanas Nationalpark, der den Süden der Inselgruppe umfasst, verwalten sie gemeinsam. Der Chef des Parks ist ein Ureinwohner.
Bis zum Sonnenuntergang sind es jetzt nur noch ein paar Stunden. Bald wird sich Sean in seine kleine Hütte im Wald zurückziehen, den Kamin anzünden und durch das große Fenster hinaus aufs Meer schauen. Stets auf der Hut, damit der Ort, an dem die Welt einmal begann, nicht untergeht.