Kanadier sind für ihre Höflichkeit bekannt. Sie gelten stets als freundlich, nett und zuvorkommend. Doch wie freundlich sind sie wirklich? Text: Jörg Michel
Alles Wörtlich nehmen? Besser nicht!
Wir Kanadier sind nette Menschen und leicht als überaus freundlich identifizierbar. Denn wir lächeln gerne und fragen immer, wie es dem anderen geht. »Sorry« gehört zu unserem favorisierten Wortschatz und wir entschuldigen uns für Dinge, für die wir eigentlich keine Schuld tragen. Wir nähen uns einen Aufnäher mit einem roten Ahornblatt auf den Rucksack, sicherheitshalber, damit man uns auch als Kanadier erkennt. Und wir sagen gerne und häufig »ja«. So lieb und knuffig sind wir!
Wobei, das mit dem knuffig kann auch eine kniffelige Sache sein, jedenfalls für Neuankömmlinge. Denn wenn wir jemanden fragen, ob es ihm gut geht, dann kann es auch sein, dass uns das nicht immer interessiert. Wenn wir »Sorry« sagen, dann bedeutet es nicht sofort, dass uns etwas leidtut oder wir uns entschuldigen. Und leider heißt »ja« auch nicht immer »ja« in Kanada. Jedenfalls nicht so, wie man es in Deutschland verstehen würde.
Hauptsache Nett
Denn manchmal sagen wir diese Dinge, weil der Eindruck, den wir von uns selbst vermitteln wollen, erst einmal positiv, freundlich und nett sein soll. Und nicht, weil wir es in jedem Fall unbedingt wörtlich meinen. Wir wollen eben nice sein, kanadisch-nice.
Auch ich musste das erst mal lernen – durchaus schmerzlich.
Damals, vor acht Jahren, bin ich nach Kanada ausgewandert. Angekommen in meinem neuen Zuhause in den Rocky Mountains wollte ich mich meinen Nachbarn angemessen vorstellen, ganz formell, mit einer Grillfeier im Garten. Also habe ich schöne Einladungen geschrieben, sie zum Teil persönlich vorbeigebracht und die Nachbarn gefragt, ob sie denn Zeit und Lust hätten, zu kommen.
»Ja. Wird schon klappen. Was kann ich mitbringen?« so oder so ähnlich klagen viele der Antworten. Und so glaubte ich, am Ende zwei Dutzend feste Zusagen in der Tasche zu haben. Auch für Makkaroni-Salat schien gesorgt und für Donuts von Tim Hortons zum Dessert. Ausgemacht. Festgezurrt. Punkt sechs Uhr.
Leichte Enttäuschung
Als der Tag dann kam, war alles minutiös vorbereitet. So wie ich es von zu Hause kannte. Der Weißwein war kaltgestellt, der Grill angefeuert, der Tisch fein gedeckt. Ich hatte Steaks und Rostbratwürste eingekauft, dazu frische Salate gemacht. Alles exakt für Punkt sechs Uhr, zwei Dutzend Nachbarn und noch ein paar obendrauf. Sicherheitshaber. Es sollte ja niemand leer ausgehen.
Was für ein Anfängerfehler! Denn eine Stunde nach dem offiziellen Beginn waren gerade einmal eine Handvoll Leute da, darunter welche, die ich nicht einmal eingeladen hatte. Wo aber waren meine ganzen Nachbarn? Und der Makkaroni-Salat und die Donuts von Tim Hortons? Hatte ich etwa was falsch gemacht? Konnten mich meine neuen Nachbarn etwa nicht leiden? Oder war das alles nur ein Missverständnis?
Ja heisst nicht immer ja
An diesem Abend habe ich gelernt: »Ja« heißt nicht immer »ja« in Kanada, sondern manchmal auch »vielleicht«. Hier ist man nice, und sagt einfach zu, auch, wenn man noch nicht weiß, ob man überhaupt kommen kann oder will. Oder die Zeit hat noch etwas mitzubringen. Meine neuen kanadischen Freunde jedenfalls fanden es völlig normal, dass am Ende nur etwas mehr als die Hälfte der eingeladenen Leute nach und nach eintrudelten, dafür ein paar Unangemeldete kamen und einen Heidenspaß hatten.
Auch das ist so kanadisch:
Im Zweifel ist hier das Glas halb voll – und nicht halb leer.
Es sei doch toll, dass so viele Leute gekommen seien, versuchten sie meine Enttäuschung zu zerstreuen. Außerdem hätte ich jetzt Steaks und Rostbratwürste für eine weitere Party. Wozu hat man schließlich einen Tiefkühlschrank?
Die Assimilation der Freundlichkeit
Mittlerweile habe ich es verstanden. Ja, manchmal sind die Dinge bei uns in Kanada unverbindlicher, lockerer bisweilen auch etwas oberflächlicher. Dafür versuchen wir, stets positiv, freundlich und zuvorkommend zu sein und reichen den Menschen gerne die Hand. Frei nach dem Motto: Lieber ein nettes »ja« zu viel als eines zu wenig. Miesepetrig, voller Bedenken oder rotzig geht gar nicht.
Mit dem Spruch »Nicht geschimpft ist gelobt genug«, den ich noch aus meiner schwäbischen Heimat kannte, kommt man in Kanada jedenalls nicht allzu weit. Hier zelebrieren wir die Höflichkeit geradezu, bisweilen auch im Überschwang. Wenn uns ein Essen schmeckt, ist es »fantastisch« und auf keinen Fall nur gut. Auch, wenn die Beilage vielleicht etwas schwach gewürzt war. Wenn uns ein Film gefallen hat, dann war er »super« und nicht etwa interessant. Auch, wenn wir einige Passagen vielleicht ein wenig langweilig fanden.
Und wenn wir mit einem abgewetzten Pass von einer Auslandsreise zurück nach Kanada kommen, dann freuen wir uns, wenn der Grenzbeamte am Flughafen irgendwann das versteinerte Poker-Face ablegt, aufschaut, lächelt und mit einem sehr freundlichen Ton sagt: »Welcome home«.