Kanada grenzt an drei Ozeane – und in diesen liegen Inseln, von denen selbst die Einheimischen oft noch nicht gehört haben.
Von Jörg Michel
Eine Insel mit zig Pferden
Irgendwo hier draußen muss die Insel sein. Irgendwo hier, umhüllt vom Nebel atlantischer Tiefausläufer. Bevölkert mit mystischen Kreaturen, deren verfilzte Mähnen im Wind wehen wie das Strandgras im Sturm. Wir streifen uns rote Trockenanzüge, Schwimmwesten und Gummistiefel über, springen in ein Zodiac-Schlauchboot und rasen auf die Insel zu. Langsam tauchen im Dunst die Umrisse einer Dünenlandschaft auf.
Sable Island heißt die wilde Insel, die zu Nova Scotia gehört. Sie besteht nur aus Sand, liegt mitten im Atlantik etwa 200 Kilometer von Halifax entfernt, ist 45 Kilometer lang und nur eineinhalb Kilometer breit. Vor vier Jahren wurde Sable Island zum Nationalpark erklärt – einem der neuesten in Kanada. Außer ein paar Forschern und Parkangehörigen wohnt niemand hier. Besucher kommen ab und zu mit dem Schiff vorbei.
Wir starten unseren Ausflug an Bord der »MV Akademik Ioffe«, einem rustikalen Forschungschiff, das im Frühsommer im Auftrag des Expeditionsanbieters One Ocean Expeditions durch die Gewässer vor der Ostküste Kanadas kreuzt. Nach der Anlandung stapfen wir querfeldein durch den butterweichen Sand. Schritt für Schritt geht es die meterhohen Dünen nach oben. Angelegte Wanderwege, Wegweiser oder Unterkünfte gibt es nicht.
Dafür jene mystischen Tiere, deretwegen wir gekommen sind: Wildpferde. Durchziehende Siedler hatten die Ponys von Sable Island vor über 200 Jahren auf die Insel gebracht – und danach schlicht vergessen. Heute leben ihre tierischen Nachkommen von Dünengräsern, Beeren und ein paar Süßwasserteichen. Sie sind das Highlight einer Insel, die selbst viele Kanadier nicht kennen, geschweige denn je besucht haben.
Wer das einsame Inselleben mag, der wird in Kanada garantiert fündig. Hier sind meine weiteren Favoriten:
Quirpon Island, Newfoundland
An der Nordspitze Neufundlands tobt der Sturm, die ganze Nacht. An den Festerscheiben meines Zimmers prasselt der Regen. Fünf Zimmer hat das kleine Leuchtturmwärterhäuschen auf der Insel Quirpon, einem überschaubaren Felsbrocken im Nordatlantik. Heute beherbergt der Leuchtturm von 1922 ein kleines B&B – der perfekte Ort um die vorbeiziehenden Eisberge in der »Iceberg Alley« zu beobachten.
Iles-de-la-Madeleines, Québec
Die kleinen Fischerinseln im Golf von Sankt-Lorenz erinnern mich ein wenig an das Cape Cod des Edward Hopper. Diese Farben! Meine Augen erfreuen sich an den roten Steilklippen, grünen Hügeln, gelben Sandstränden und den pinken und blauen Holzhäuschen am Ufer. Spannend ist auch das Robbenmuseum im Örtchen Grand-Entrée. Die geräucherten Heringe in der Räucherei Le Fumoir d‘ Antan sind ein Renner!
Herschel Island, Yukon
Wie ein Haken ragt die flache Insel vor mir ins Eismeer – karg, wild und ungestüm. Im 19. Jahrhundert betrieben Fischer auf Herschel Island eine Walfangstation im arktischen Ozean. Heute ist die Insel, die vor der Nordspitze des Yukon liegt, unbewohnt. Geblieben sind historische Holzhäuser und ein rustikaler Campingplatz. Besucher kommen mit Boot oder Wasserflugzeug und übernachten in Zelten am Strand. Ein Abenteuer für Hartgesottene!
Tanu Island, British Columbia
Als sich mein Boot der Insel nähert, steigt ein Weißkopfseeadler auf und Seehunde springen ins Meer. Tanu gehört zu Haida Gwaii, ein stürmisches Archipel im nördlichen Pazifik. Einst lebten auf Tanu wohlhabende Haida in Dörfern mit prächtigen Langhäusern und Totempfählen. Geblieben davon sind Holzbalken im Moos. Die Asche von Bill Reid, dem Superstar der indigenen Schnitzkunst in Kanada, wurde hier bestattet.