Nirgendwo in Kanada lässt es sich so schön ziellos bummeln wie in der alten Hauptstadt von Französisch-Nordamerika, in Quebec City! Text: Ole Helmhausen
Mein Freund Louis ist zwar schon pensioniert, aber immer noch erstaunlich behende. Die Treppe vor uns nimmt er im Laufschritt. »Weißt Du, warum wir hier so fit sind?«, fragt er über die Schulter. Noch eine Treppe, noch mehr Stufen. Ich habe eine leise Ahnung. »Die Treppen sind’s, die Treppen!« Kein Thema, Louis. Du bist unverschämt gut in Form …
Ansonsten schlendern wir jedoch durch Vieux-Québec, die Altstadt von Québec. Keine Wolke am Himmel. Deshalb habe ich die Museen auf morgen verschoben und folge stattdessen Louis, der hier wohnt und sich bestens auskennt. Auf den Bürgersteigen fließt ein gut gelaunter Menschenstrom an Feuerschluckern, Stelzenläufern und Bänkelsängern vorbei Richtung Place d’Armes. Vom St.-Lorenz-Strom kommt ein frischer Luftzug herauf. Wir lassen uns treiben. Es ist Sommer in Québec.
Alle Wege führen zum Chateau Frontenac
Die einzige Stadtmauer nördlich von Mexiko hat die 1608 gegründete Altstadt zum Unesco-Weltkulturerbe gemacht. Alle Spaziergänge dahinter beginnen beim Chateau Frontenac. Das ist einfach so. Das Chateau ist kein Schloss, sondern das wohl meistfotografierte Hotel der Welt. Es beherrscht – oder vielmehr ist – die Skyline der Stadt. Hinter den Mauern dieses gewaltigen Backsteinbaus werkelten Churchill und Roosevelt an einem Nachkriegseuropa, büffelte US-Präsident Reagan französische Vokabeln und und …
Zum Fluss hin liegt die Terrasse Dufferin, eine 600 Meter lange, aus Holzplanken gezimmerte Promenade. Die Aussicht von hier auf den Strom, der in Québec nur »le fleuve« heißt, ist grandios. Stromabwärts beult er sich zu einem See aus, der mit weißen Segeln gesprenkelt ist, am Horizont gabelt er sich, um die historische Ile d’Orléans zu umarmen.
Ich habe geografische Amnesie. Bin ich in Nordamerika, oder doch eher irgendwo in Frankreich? Die Straßen sind eng und krumm, die Häuser könnten ebenso gut in der Bretagne stehen. Geografie und Geschichte haben eine großzügiger angelegte Oberstadt, die »Haute-Ville« hoch auf dem Felsen, und eine Unterstadt, die verwinkelte »Basse-Ville« auf dem Flussufer, hervorgebracht. Kurvenreiche Straßen und noch steilere Treppen verbinden die beiden Altstadtteile miteinander. Eine heißt sogar »Escalier Casse-Cou«, also »Genickbruchtreppe«. Man kann aber auch die fahrstuhlähnliche Zahnradbahn nehmen, den »Funiculaire«.
Eine durch und durch sympathische Stadt
Die Aussicht ist immer dort am besten, wo Kanonen stehen. Am oberen Ende der Terrasse Dufferin führt eine Treppe zur Zitadelle hinauf. Die mit Soldaten des 22nd Royal Regiment bemannte Festung haben die Briten nach dem Abfall der 13 Kolonien aus Furcht vor noch mehr schlechten Erfahrungen mit den Amerikanern errichtet. Ironie der Geschichte: In britischen Uniformen steckende Soldaten zelebrieren – einmalig im Commonwealth – ihre Wachablösung auf Französisch. Irgendwo auf den Festungshängen werfen wir uns ins Gras und genießen den Blick auf die unamerikanischste Stadt Nordamerikas.
Das Flanieren geht langsam in die Beine. Für die Unterstadt nehmen wir deshalb den »Funiculaire«. Der Tag geht zuende, zu den Touristen gesellen sich jetzt die Einheimischen. Unsere »Loonies«, Dollarstücke, fliegen in die Hüte der Musikanten, dann geht es weiter, ohne Plan und Ziel. Selbst der dynamische Louis hat jetzt den Schongang eingelegt und bummelt mit Permalächeln und den Händen in den Hosentaschen.
Spürst Du sie, die gute Stimmung?
fragt er, während wir über die romantische Rue Petit-Champlain schlendern.
Zu guter Letzt ein verfluchtes Bier
Tatsächlich, der laue Sommerabend versetzt die Menschen in beste Laune. Selbst die einheimischen Punker sagen höflich »ecxusez-moi«, bevor sie sich an uns vorbeischieben. Vor der Église Notre-Dame-des-Victoires an der Place-Royale, der Keimzelle der Stadt, spielt ein Streicher-Quartett, doch wir hören nicht mehr richtig hin. »Zeit für ein Bier«, erklärt Louis und steuert die nächstbeste Kneipe an. Die Kellnerin stellt zwei Gläser Maudite-Starkbier auf den Tisch.
Ich frage Louis nach dem Bild auf meinem Glas. Es zeigt ein fliegendes Kanu mit Holzfällern und einem hämisch grinsenden Teufel darin. »Bienvenue au Québec«, lächelt Louis.
Das ist ein Stück Québecer Kultur,
sagt er, lehnt sich zurück und beginnt die Erzählung La Chasse-Galérie von den liebeskranken Holzfällern tief im Wald, die mit dem Teufel einen Pakt schließen, um nachts bei ihren Bräuten in der Stadt sein zu können. Beelzebub lädt sie zum Flug in seinem Kanu ein, unter der Bedingung, dass sie unterwegs weder fluchen noch Gottes Namen nennen.
Das geht natürlich schief, denn auf dem Rückweg brüllen die durstigen Herren mit den berufsüblichen Kraftausdrücken – in Québec drehen sich die allermeisten Schimpfworte um die Kanzel – nach Bier. Das Kanu stürzt ab, und seitdem schmoren die armen Kerle in der Hölle. Das Maudite erinnert entfernt an Portwein. »Teufel, das schmeckt«, sage ich. Louis lacht.
Pass auf, mon chèr! Maudite heisst nämlich nichts anderes als verflucht …