Jedes Jahr im Herbst treten die Lachse in Kanada ihre lange und beschwerliche Reise zum Ort ihrer eigenen Geburt an, um für Nachkommenschaft zu sorgen. Sie werden es nicht überleben. Aber nur alle vier Jahre erreicht das Naturschauspiel ein Ausmaß, das unvergleichlich spektakulär ist. Text: Gerald Nowak
Kreislauf des Lebens
Die Strömung ist kräftig und zerrt an Maske und Tauchanzug, mehr als ich es normalerweise von meinen Tauchgängen gewohnt bin. Trotzdem bewege ich mich keinen Zentimeter von der Stelle. Die Wassertemperatur beträgt sieben Grad, dennoch – ich friere kein bisschen. Mehr noch als mein Trockentauchanzug schützt mich die wärmende Herbstsonne vor der Auskühlung. Auf Armeslänge von mir entfernt rangeln zwei männliche Rotlachse um die Gunst des paarungsbereiten Weibchens. Ich liege in nur wenigen Zentimetern Wassertiefe am Adams River in British Columbia, als der stärkere der beiden den Revierkampf gewinnt und den Rogen des Weibchens befruchtet. Aber die Eltern werden ihre Fischkinder nicht kennenlernen. Sie sterben schon in wenigen Stunden oder Tagen. Ihre vom Lebenskampf geschundenen Körper werden zu Grund sinken und Nährstoffe ins Wasser abgeben oder als Nahrung von Wildtieren dienen. So oder so schließt sich der Kreislauf des Lebens in diesem Moment.
Rotlachse beobachten: Der Salmon run
Als ich vor mehr als fünf Jahren das erste Mal Bilder von der Wanderung der Rotlachse gesehen habe, war ich sofort fasziniert. Das muss ich mit eigenen Augen sehen und natürlich auch fotografisch festhalten. Damals war mir noch nicht klar, wie lange es dauern würde, bevor ich diese Reise umsetzen kann, denn die Lachse ziehen zwar jedes Jahr in ihre Laichgründe, doch nur alle vier Jahre gibt es einen spektakulären »Salmon Run«.
Der lange Weg zur Fortpflanzung
Gemeinsam mit einer Handvoll Gleichgesinnten verbringe ich nun die kommenden Tage Anfang Oktober am Shuswap Lake, um hier drei Wochen lang das Leben und Sterben der Rotlachse zu beobachten. Diese ziehen am Ende ihres Lebens zum Laichen über den Fraser und Thompson River in die Quellflüsse hinauf. Einer dieser Quellflüsse ist der Adams River, der in den Shuswap Lake mündet. Im Shuswap See verschnaufen sie, bevor sie sich den schnellströmenden Adams River hinaufquälen, um ihre Laichplätze zu finden. Bis zu 14 Millionen Tiere sollen auf dem Weg hierher sein. Eine gewaltige Zahl.
Das kalte Kanada
Der kanadische Herbst ist feucht und regnerisch, doch wir haben unglaubliches Glück. Nur am Ankunftstag öffnet der Himmel seine Schleusen. Bereits am Nachmittag des zweiten Tages reißt der Wolkenvorhang auf und die Sonne kommt zum Vorschein. Dafür sinkt die Temperatur, die ersten Frostnächte stehen uns bevor. Selbst die Tauchgänge im Shuswap Lake – bei nur sechs bis sieben Grad Wassertemperatur – fühlen sich angenehm an. Wir tauchen in zwei Gruppen und haben dafür zwei Locations, die wir täglich wechseln.
Im Lachsschwarm verweilen
Der Platz am See liegt direkt an der Flussmündung des Adams Rivers. Hier hat der Fluss eine breite Kieszunge in den See geschoben. Die Strömung im Fluss macht ein Tauchen unmöglich, doch wenn man seitlich entlang der Kieszunge schwimmt, spürt man die Strömung kaum. Hier wartet eine riesige Schule Rotlachse darauf, genug Kraft zu sammeln, um sich den beschwerlichen Weg hinauf in die Altwasserarme zu kämpfen. Dort werden sie laichen und sterben. Ein perfekter Platz, um mitten in einem Lachsschwarm zu verweilen. Doch mühsam ist es dennoch, denn nur wer für lange Sekunden die Luft anhält, kommt in den Genuss, die Lachse auf Tuchfühlung zu erleben. Eine schnelle Bewegung oder Atmen reicht und sie sind verschwunden.
Der Kampf um das Laichen
Ganz anders ist das Fotografieren im Fluss. Hier bekommt der Begriff »Trockentauchen« eine ganz neue Bedeutung. Vom Tauchen sind wir weit entfernt, denn samt Trockentauchanzug liegt man im Kies auf dem Trockenen. Nur Kopf und Kamera befinden sich im Wasser. Das Ziel ist es, die Fische in den seichten Nebenarmen beim Laichen zu erwischen. Spannend zu beobachten, wie die Lachse ihren »Platz« im Fluss verteidigen. Die Weibchen verbeißen ihre Konkurrentinnen mit aller Macht. Aber auch die Männchen drängeln was das Zeug hält. Während sie den Fluss hinaufgewandert sind, hat sich ihr Äußeres gewaltig verändert. Nicht nur das rote Laichgewand zeugt vom bevorstehenden Lebensende. Auch der Unterkiefer hat sich kräftig nach oben verbogen und gewaltige Zähne sind zum Vorschein gekommen. Manche Exemplare tragen deutlich sichtbare Blessuren von den heftigen Kämpfen um die Weibchen.
In die große weite welt und wieder zurück
Drei bis fünf Mal baut ein Weibchen während der tagelangen Laichzeit neue Laichgruben, um dann einige Hundert Eier abzulegen. Bis zu 3.000 pro Fisch. Die bis zu sieben Kilo schweren Männchen versuchen, darauf ihren Samen zu verteilen. Die befruchteten Eier verweilen mehrere Wochen im Kies, bevor die winzigen Junglachse schlüpfen. Diese treiben mit der Strömung hinunter in den Shuswap Lake. Hier verbringen sie durchschnittlich ein Jahr, bis sie groß genug sind, um die über eintausend Kilometer lange Strecke hinunter in die Bucht von Vancouver zu schwimmen. Im Meer angekommen, beginnt eine circa dreijährige Reise ins nördliche Polarmeer und zurück zum Laichen in den Adams River. Hier endet ihr Leben. Nicht bei allen Lachsen beträgt dieser Lebenszyklus exakt vier Jahre. Es gibt auch einige Tiere, die schon nach drei Jahren zurück sind, während andere fünf Jahre benötigen. Doch die Zeit des Laichens ist immer um den 15. Oktober. Ein paar wenige Lachse verweigern die Wanderung hinab ins Meer. Sie verbringen ihr komplettes Leben im See. Die Ureinwohner Kanadas, die First Nations, nennen sie »Kokanee«.
Was es sonst noch zu sehen gibt
Wir haben die drei sehr intensiven Wochen mit dem Leben und Sterben der Lachse verbracht und viel gelernt über ihre Bedeutung für die gesamte Region. Ohne die Lachse würde es hier komplett anders aussehen, denn die Tiere tragen aus dem Meer wichtige Nährstoffe mit sich. Diese tragen nach ihrem Tod dazu bei, dass die gesamte Umgebung der Flüsse auflebt und vom Sterben der Lachse profitiert. Kaum eine andere Region hat so viele Adler, Seevögel und Landtiere, die sich von den Kadavern der Fische ernähren. Nur die scheuen Schwarzbären sind uns nicht vor die Linse gelaufen. Sie vermeiden die Begegnung mit dem Menschen und sind nur nachts unterwegs. Wir haben immer nur ihre Hinterlassenschaften gesehen, die unser lokaler Guide eindeutig identifiziert: »Bear poo, you can recognise it by the berries«. Vielleicht ist uns in vier Jahren eine Begegnung mit den »Beeren-Bären« gegönnt, denn 2022 erwartet Kanada den nächsten gewaltigen Salmon Run.
Infos:
Location: Adams River, Shuswap Lake, BC, Kanada
Für das Schnorcheln und Tauchen ist ein Permit notwendig, das die Parkverwaltung nach sorgfältiger Prüfung ausstellt. Foto- und Filmteams müssen dieses Permit frühzeitig beantragen, da es nur wenige Genehmigungen pro Tag gibt. In Europa ist der Ansprechpartner Waterworld, ein Spezialveranstalter für Tauch- und Erlebnisreisen. Wer die Lachse nur vom Ufer aus beobachten möchte, kann dies ohne Permit machen, nur ins Wasser darf man dann nicht.