Die kanadische Literatur lag bei uns sowie international noch bis vor wenigen Jahren in einem tiefen Dornröschenschlaf und wurde sowohl von Kritikern als auch vom Publikum kaum wahrgenommen. Spätestens durch den überwältigenden Erfolg der Verfilmung von Michael Ondaatjes Roman »Der Englische Patient« im Jahre 1996 wurde bei vielen aber das Interesse für die Literatur dieses Landes geweckt. Hier die drei Autoren, die man gelesen haben muss.
Margaret Atwood
Jedes Wort sitzt. Unterhält man sich mit Margaret Atwood (geb. 1939 in Ottawa), zweifelt man ein wenig an seinem eigenen Intellekt. Nicht etwa, weil die erfolgreichste kanadische Autorin überheblich ist. Ganz im Gegenteil. Sie ist einfach blitzgescheit. Jeden Gedanken, den ich fasse, hatte sie lange vor mir. Eine neue Idee hat sie bereits zerlegt, reflektiert und geschickt mit einer Prise Humor zusammengesetzt.
Atwood ist die Frau, die ich gerne wäre. Sie ist bekümmert um die Welt und die Menschheit. Sie appelliert und sorgt sich. Sie formuliert und kämpft beispielsweise für den Erhalt der Ozeane, weil sie begriffen hat, dass eine Welt ohne die intakten Weltmeere nicht möglich wäre. All die Sorgen geben ihr eine gewisse Härte, einen Kampfgeist, der sich auch in ihren Büchern widerspiegelt. In dem gerade erschienenen Kurzgeschichtenband »Die steinerne Matratze« sterben die Männer reihenweise, ermordet von der Damenwelt. Und diese vertuschen ihre Tat äußerst kreativ und geschickt. Auch das gibt Atwood einen distanzierten Charakter – oder sagen wir so – es ist nicht das typische Bild der liebenden Großmutter. Denn genau mit diesem Klischee möchte sie brechen. Und mein Lieblingsbeispiel dafür, dass Atwood nicht die sanfte Seniorin ist, die nur von Selbstermächtigung träumt, ist ihr Essay in der New York Times vor ein paar Jahren. Dort hat sie mit einem spitzen und hintersinnigen Humor den Marsmenschen die USA erklärt. Wie das heute wohl nach dem Trump-Sieg ausfallen würde, frage ich mich? Auf Twitter kann man ihren Unmut über den Sieg verfolgen. Denn Margaret Atwood ist aktiv in dem sozialen Netzwerk, das sie nutzt wie ein »ungefiltertes Radio«. Ich hoffe doch sehr, dass ich noch viel Literatur von dieser weisen, gebildeten und kreativen Frau zu lesen bekomme.
Leseprobe aus „Die steinerne Matratze“ von Margaret Atwood
Alice Munro
Als Alice Munro 2012 ihre Erzählungen »Dear Life« (zu Deutsch: Liebes Leben) veröffentlichte, sagte sie, dass dies ihr letztes Werk sei. Munro schreibt keine Romane, sie verfasst ausschließlich Erzählungen. Und Liebes Leben ist ihr letzter Band mit Kurzgeschichten, der scharfkantig, zeitlos und lebendig das Leben ihrer Heldinnen (selten auch Helden) erzählt. Munro schafft es, in diesen Erzählungen mitten ins Leben der Hauptfiguren einzusteigen und so Raum für Resonanz zu lassen. Einen Roman hat die kanadische Autorin nie geschrieben. Auch wenn sie es versucht hat, wie sie einst der britischen Zeitung The Guardian gestand. Sie ist bei ihren komprimierten Geschichten geblieben, die so intensiv sind, wie es mancher Roman nicht auf hunderten von Seiten schafft. Und Alice Munro brilliert in diesem Metier. Manchmal nüchtern, manchmal geduldig, aber immer mit einer feinen Tiefe. Einer gelungenen – nein, perfektionierten – Sprache, die vielfach ausgezeichnet wurde. Der Höhepunkt sicherlich: der Literaturnobelpreis 2013.
Eine Konstante ihrer Geschichten ist Huron County, gelegen im Südwesten Ontarios. Eine Gegend, in der sie als Tochter einer Lehrerin und eines Pelztierfarmers aufwuchs. Es ist ein Stück Provinz, das wir uns in Deutschland nur schwer vorstellen können. Zwischen Lake Huron und Lake Erie liegt die von ihr beschriebene Eintönigkeit, die geprägt ist von seichten Flüssen und piefigen Kleinstädten. Die Art und Weise, wie Alice Munro ihre Mutter beschreibt, diese Frau, die sich um jeden Preis von ihrer bäuerlichen Herkunft emanzipieren will, lässt erahnen, wie schwer es für Munro gewesen sein muss, ihren Weg zu gehen. Dabei hat sie ihre Ausgangsposition genutzt, um aus ihren Erfahrungen etwas Großartiges, Kreatives und gleichzeitig auch Allgemeingültiges zu destillieren. Was ihre Figuren fühlen, erleiden, wie sie handeln, was ihnen wichtig ist: Das ist überall auf der Welt identisch. Eben dies macht die große Weisheit von Alice Munro aus.
Leseprobe aus „Liebes Leben“ von Alice Munro:
Yann Martel
Ein Meisterwerk. So wird »Schiffbruch mit Tiger« gerne und häufig genannt. Für den Autor ist dies dann Segen und Fluch zugleich, denn wer hoch fliegt, kann tief fallen. Yann Martel zeigt sich in Interviews von dem Erfolgsdruck unbeeindruckt. Stattdessen findet er sich – Achtung, er hat den Bachelor in Philosophie – in dem Glauben wieder, den er erst durch seine Buchrecherche für sich entdeckt hat. Yann Martel ist in einer Diplomatenfamilie ohne Religion aufgewachsen. Die Religion wurde, so Martel, durch Kunst und Kultur ersetzt. Und mit seiner Suche nach Halt hat er den Menschen aus der Seele gesprochen. »Schiffbruch mit Tiger« erschien in Kanada am 11. September 2001. Ein amerikanischer Schicksalstag, der den kommerziellen Erfolg des Buchs erst einmal in weite Ferne rückte, es aber dann – eben wegen der daraus resultierenden Verunsicherung – so erfolgreich machte. Der Roman traf das Gemüt der Zeit ohne dass Yann Martel ahnen konnte, wie dieses wohl beschaffen sein wird. Millionenfach wurde der Roman verkauft, in 40 Sprachen übersetzt und letztlich vom Weltklasseregisseur Ang Lee verfilmt. Die Bildgewalt des Ang Lee verehre ich sehr.
Yann Martel hat just ein weiteres Meisterwerk veröffentlicht. Zumindest feiern es die Kritiker als ein Werk zwischen »Entertainment und Philosophie«. »Absolut einzigartig«, fasste eine Rezension seinen Roman zusammen. »Die hohen Berge Portugals« heißt das Werk, das Anfang des 20. Jahrhunderts in Portugal spielt. Die Idee zum Buch hatte Martel bereits seit Jahren, aber erst jetzt sollte daraus ein Buch entstehen, das sich aus drei Erzählungen zusammensetzt.
»Wenn ich keinen Erfolg gehabt hätte, hätte ich das Schriftsteller-Dasein an den Nagel gehängt«. Heute muss er sich wohl keine finanziellen Sorgen mehr machen und lebt als gebürtiger Spanier in dem Städtchen Saskatoon in Saskatchewan mit seiner Frau und ihren gemeinsamen vier Kindern. Und darf glücklicherweise weiterhin so wunderschöne Sätze verfassen wie » …, dann kam er, um dem Universum den Puls zu horchen, und das Stethoskop seines Verstandes sagte ihm jedes Mal, dass alles in Ordnung, ja, dass alles in Ordnung war.«
Leseprobe aus „Die hohen Berge Portugals“ von Yann Martel: