In Tofino an der Westküste von Vancouver Island kann mir das Wetter im Winter nicht schlecht genug sein. Höchste Zeit zum Stormwatching!
Von Jörg Michel
Es ist ein wilder Wintertag an Kanadas Pazifikküste: Das Meer ist aufgewühlt und voller Schaumkronen. Meterhohe Brecher rollen auf das Ufer zu und zerbersten mit einem lauten Krachen an den Klippen. Die Wellen schleudern entwurzelte Bäume an Land. Wie Streichhölzer zerbrechen die mächtigen Stämme an den Felsen. Sturzflugartiger Regen peitscht mir ins Gesicht. Er fühlt sich an wie Nadelstiche auf meiner Haut.
Wie ich dieses Wetter liebe!
Wenn es draußen so richtig hässlich ist, dann gefällt mir Tofino am besten. Rau, ungezähmt, wild. Nicht von ungefähr ist der kleine Ort am Rande des Pacific Rim National Park Kanadas Sturmhauptstadt Nummer eins. Und dem Namen macht Tofino heute alle Ehre: Der Himmel ist dunkelgrau. Das Alaska-Tief wirft Kaskaden von Regen aufs Land. Es ist ein Elementarerlebnis, eine Art Öko-Krimi live.
Höchste Zeit also für »Stormwatching«. Das fordert meinen Kleiderschrank heute besonders heraus. Der Wind bläst mit bestimmt 60-70 Stundenkilometern über den Strand und ich habe mich eingemummelt in zwei Layer aus Fleece. Darüber trage ich eine gelbe Regenhose und Jacke sowie kniehohe Gummistiefel. Ein echter Regenhut wäre jetzt gut, doch für‘s erste genügt auch meine Kapuze. Regenschirm? Kann man vergessen!
Sturm ist hier eine Attraktion
Mit all meiner Kraft stemme ich mich gegen den Wind – und traue meinen Augen kaum. Am Chesterman Beach ist richtig was los: Dutzende Strandgänger kämpfen sich mit mir durch den Sturm. Ein paar Schritte weiter schiebt ein Pärchen einen eingehüllten Kinderwagen über den beinharten Sand. Ein Rentner hat Mühe, seinen Hund wieder einzufangen. Kinder bewerfen sich mit matschigen Sandklumpen – so schön kann der Regen sein!
Sauwetter als Touristenmagnet? Was für eine geniale Idee! An kaum einem Platz in Kanada regnet es so viel wie in Tofino – pazifischer Regenwald eben. Und doch ist das Örtchen im äußersten Westen Vancouver Islands so populär wie nie. Schon mal versucht, an einem Winterwochenende dort spontan ein Zimmer zu buchen? Oder einen Platz im Wolf In The Fog, dem besten Restaurant im Ort? Na dann viel Glück!
Das Sturmhotel
Was mich zu Charles McDiarmid bringt. Der Hotelier empfängt mich in der Lobby des Wickaninnish Inn und schmunzelt, als er mich in meinen triefenden Klamotten sieht. Macht nichts, sagt er. Hier läuft doch jeder so rum. Auch in einer so feinen Herberge wie der seinen. Im Keller gibt’s ja einen Trockenraum, außerdem bekomme ich wie jeder Gast eine Taschenlampe, nebst Wetterbericht und Gezeitenkarte. Man weiß ja nie.
Es war Charles, der einst die Idee hatte, den Regen zu zelebrieren. Damit hatte er das lange verschlafene Nest am Ende des Küstenhighways vier aus dem Winterschlaf gerissen – und seitdem viele Nachahmer gefunden. In seinem Restaurant The Pointe habe ich jedenfalls das Gefühl, draußen auf der Klippe zu sitzen. Direkt im Auge des Sturms – allerdings mit einem wunderbar wärmenden Grog in der Hand und, endlich, im Trockenen.
Das ist besser als Fernsehen
So sitze ich also vor den überdimensionalen Fenstern, starre gebannt nach draußen und vergesse darüber fast mein Abendessen, einen gedünsteten Heilbutt mit Kartoffeln und Kohlrabi-Sauce. In meinem Blickfeld schwanken die Zweige riesiger Rot-Zedern und Sitka-Fichten, die bis zu achthundert Jahre alt sind. Die Brandung peitscht auf die Terrasse und ich hoffe inständig, dass die Bäume nicht ausgerechnet jetzt umknicken.
In der Nacht klappern meine Fenster und der Wind pfeift durch die Ritzen im Gebälk. Am nächsten Morgen trete ich mit einer Tasse Kaffee und in eine Wolldecke eingehüllt auf meinen überdachten Balkon und siehe da: Sonnenstrahlen über dem Strand. Ja, richtig gehört: Sonnenstrahlen! Über Nacht hat der Sturm die schweren Wolken wie weggeblasen und der Himmel ist tiefblau. Die Luft ist klar und frisch – aber kalt.
Aus Müll wird coole Kunst
Zeit für einen letzten Spaziergang am Strand. Eingepackt in Wollpulli, Schal und Mütze streife ich über den Wickanninish Beach. Überall liegen Ästen, Tang und Geröll aus dem Meer herum. Das freut Pete Clarkson, der mich an diesem Morgen begleitet. Auch Pete findet, je schäbiger das Wetter, desto besser. Denn an Tagen wie diesen findet er genügend Trümmer, die er später zu Kunstwerken und Installationen verarbeiten kann.
Wenn das mal keine gute Idee ist. Weniger Müll, dafür mehr Kunst. Besonders gefallen mir die Puppen, die Pete aus Bojen, Plastikscherben und angeschwemmten Schiffstauen bastelt. Mit Glück findet er nach Stürmen auch bunte gläserne Kugeln, etwa faustgroß. Die stammen von Fischern aus dem fernen Japan, die damit ihre Netze markieren. Auch Schrott vom großen Tsunami von 2011 landet nach solchen Nächten regelmäßig in Tofino an.
Zurück am Parkplatz schalte ich die Autoheizung ein und das Radio an. Durch die Windschutzscheibe erkenne ich in der Ferne einen blinkenden Leuchtturm und ein paar wippende Boote, die sich durch die Brandung wühlen. Dann die Nachrichten. Der Sprecher hat Neuigkeiten, die man in Tofino gerne hört: Sturmwarnung! Weit da draußen braut sich offenbar bereits das nächste Unwetter zusammen. So macht Winter richtig Spaß!