Mal Lust, hinter die Postkartenfassade zu schauen? Diese Wanderungen in den Rocky Mountains bieten einmalige Erlebnisse abseits der ausgetretenen Pfade. Text: Jörg Michel
Eine tierische Überraschung
Es ist ein lauer Sommerabend am Ufer des Amethyst Lake im Jasper Nationalpark. Die Grillen zirpen, der Gletscherbach rauscht. Wir haben unser Zelt aufgebaut, die Wanderstiefel ausgezogen und gönnen unseren geschundenen Füßen eine Auszeit. Nebenher bruzzeln wir uns auf dem Camping-Kocher einen Eintopf.
Auf einmal raschelt was. Wir springen auf und schnappen unsere Smartphones. Tatsächlich! Auf der Lichtung gegenüber stehen drei Huftiere im moorigen Gras. Sie haben ein grau-braunes Fell, neugierige Augen, ein mit Fell überzogenes Geweih und ungewöhnlich große Läufe: Bergkaribus!
Was für ein Erlebnis!
Spätestens jetzt hat sich der 28 Kilometer lange Backpacking-Trail ins Hinterland gelohnt. Bergkaribus sind eine Seltenheit in den Nationalparks der Rocky Mountains – nur wenige Wanderer bekommen sie je zu sehen. In Banff, Yoho und Kootenay sind sie ausgestorben, in Jasper leben noch rund 150 Tiere.
Die meisten Bergkaribus in Jasper haben hier, unweit des Seeufers, eine Zuflucht gefunden. Tonquin Valley heißt das Hochtal in der Wildnis, an dem ich mich einfach nicht satt sehen kann. An den Bergkaribus, an den alpinen Wiesen, Wasserfällen, Gletschern und gewaltigen Felswänden hinter dem Amethyst Lake.
Mein Favorit: Tonquin Valley
Für mich ist das Tonquin Valley einer der schönsten Orte in Kanada – vielleicht sogar der Welt. Die Tour über den 2.210 Meter hohen Maccarib Pass ist lang und anstrengend, aber technisch nicht schwer. Ausgangspunkt ist ein Parkplatz an der Straße, die vom Dörfchen Jasper zum Skigebiet Marmot Basin führt.
Die Wanderung ins Tonquin Valley für mich die unbestrittene Nummer eins in den kanadischen Rockies. Hier lade ich auf, hier komme ich zur Ruhe. Aber ich habe auch andere wunderschöne Wanderungen in den Rocky Mountains für euch herausgesucht.
Big Bend, Jasper Nationalpark
Diese Wanderung ist so einfach – und doch so unbekannt. Ziel ist eine spektakuläre Flußbiegung am Athabasca River. Los geht’s an den Sunwapta Falls am Icefields Parkway. Nach sieben meist flachen Kilometern durch den Nadelwald taucht eine Sandbank hoch über dem Flußufer auf. Der Blick ist spektakulär, die Natur berauschend, die Stille inspirierend. Könnte ich malen, würde ich hier meine Staffelei aufstellen!
Helen Lake, Banff Nationalpark
Die beste Tageswanderung in Banff, die einen ohne größere Anstrengung über die Baumgrenze führt. Zwölf Kilometer lang ist der Weg vom Parkplatz am Icefields Parkway und zurück. Schon nach weniger als einer Stunde ist man im alpinen Hochland: bunte Wildblumen, heulende Murmeltiere und ein Buch am spiegelglatten Helen Lake sind meine Highlights. Der Ausgangspunkt liegt 30 Kilometer nördlich von Lake Louise.
Rockwall Trail, Kootenay Nationalpark
Hier ein Tipp für Sportliche: Der 55-Kilometer lange Rockwall-Trail ist einer der wohl spektakulärsten Backcountry-Hikes in Kanada – aber nichts für schwache Nerven. Drei bis vier Tage geht es an einer atemberaubenden Kette kambrischer Kalksteinfelsen entlang, über drei Bergpässe, durch Geröllfelder, über Schluchten. Selten haben meine Muskeln so geschmerzt wie hier. Es hat nur wenige Zeltplätze, also früh buchen!
Lake O’Hara, Yoho Nationalpark
Ein magischer Ort. Die Maler der kanadischen Künstlergruppe „Group of Seven“ liebten den Lake O’Hara, einen türkisgrünen See, der auf der Rückseite des Victoria Gletscher liegt. Ihre atemberaubenden Bilder brachten den See ins Bewußtsein der ganzen Nation. Heute fährt zwei Mal am Tag ein Bus dorthin, wenn man das Glück hat, eines der wenigen Tickets zu ergattern. Wenn nicht, dann bleibt ein elf Kilometer langer Wanderweg.