Schon mal Robbenfleisch probiert? Lende vom Rentier? Oder Cocktails mit wilden Krähenbeeren? Auf Gourmet-Reisen in Kanadas Norden kann man ungewöhnliche Geschmäcker probieren Von Jörg Michel
Voller Körpereinsatz im hohen Norden
Grant Sceney ist ein Supertyp und einer der besten Barkeeper in Kanada. Normalerweise arbeitet er in der Lounge des Fairmont Pacific Rim, einem Luxushotel in Vancouver, und mixt dort Cocktails für Könige, Prinzen und Premierminister. An diesem Sommertag im Juni aber kriecht Grant für uns über den subarktischen Waldboden und sucht Fichtennadeln, wilde Krähenbeeren und Blütenblätter von pinken Wildrosen.
Ähnlich Jeremy Charles. Der preisgekrönte Küchenchef streift durch die Tundra und hält Ausschau nach Säuerlingen, arktischem Steinbrech und Grönlandporst. Es sind allesamt Kräuter, die er in seinem Fünf-Sterne-Restaurant Raymonds im neufundländischen St. John’s sonst kaum verwendet. Doch hier in der Arktis gehören die Pflanzen zu den lokalen Zutaten – und Jeremy brennt darauf, sie für uns auszuprobieren.
Die Entdeckung der arktischen Kulinarik
Wir sind mit Grant, Jeremy und einigen der besten Köche Kanadas für eine Woche unterwegs am oberen Ende der Landkarte, um die Küche des Nordens zu zelebrieren.“Across the Top of Canada heißt die Gourmet-Reise, die uns durch den Yukon, die Nordwest-Territorien, den Norden Manitobas und durch Nunavut führt. Veranstaltet wird sie von Edible Canada, einem der größten Anbieter von Kulinarik-Reisen in Kanada, der dafür eigens ein Charterflugzeug angeheuert hat, damit wir die entlegenen Regionen auch zügig erreichen.
Tagsüber sind wir, eine Gruppe von etwa 80 Gästen, mit Grant, Jeremy und den anderen auf Tagesausflügen in der Wildnis unterwegs: Wir wandern durch die Tundra, beobachten Wale und Wildtiere und probieren unser Angelglück in den Seen und Fjorden des Nordens. Im Vordergrund aber stehen kulinarische Highlights am Abend. Dabei erleben wir Geschmäcker, die wir in den Restaurants im Süden so nicht bekommen würden.
Nothernly Inspired
»Die Kräuter des Nordens sind tolle Zutaten für einzigartige Cocktails«, erzählt Grant, während er in einer Bar in der Altstadt von Yellowknife seine frisch gesammelten Nadeln, Blätter und Beeren mit Zitronensaft, Whisky und Sherry mixt. Am Ende entsteht daraus ein Berry Cobbler, den Grant so noch nie zuvor gemixt hat und zu dem er sich erst hier bei einem Ausflug durch die borealen Wälder des Nordens hat inspirieren lassen.Der Cobbler ist eine Wucht! Er schmeckt fruchtig-frisch und zugleich ein wenig herb, so einzigartig, so gut. Dabei ist er nur einer von mehr als einem Dutzend »northernly inspired« Cocktails, mit denen uns Grant im Laufe der Reise verwöhnt. Dieser Mann ist einfach phänomenal! Zum Glück haben wir auf dem Flieger einige Paletten Flüssiges dabei, damit uns die Vorräte nicht ausgehen!
Kochen wie die Inuit
Am nächsten Tag in Nunavuts Hauptstadt Iqaluit haben Jeremy und die drei weiteren Küchenchefs ihren großen Moment. Wir stehen abends irgendwo mitten in der Tundra am Ufer des Sylvia Grinnell River, während ein eisiger Wind über die noch halb gefrorene Frobisher Bucht fegt. Warm halten uns zwei riesige Lagerfeuer, auf denen Jeremy und Co. die Köstlichkeiten des Nordens zubereiten.
Dabei lehnen sie sich an die fettreiche Küche der Inuit an. Da in der Arktis importierte Lebensmittel aus dem Süden wie Südfrüchte, Salate oder Gemüse nur sehr teuer zu haben sind, greifen die Menschen im Norden gerne auf heimische Fische und traditionelle Fleischsorten von Robben, Rentieren oder Walen zurück. Die haben reichlich Vitamine und haben den Ureinwohnern über Jahrhunderte das Überleben gesichert.
Was steht noch auf der Speisekarte
Und so verwendet heute auch Jeremy Zutaten von heimischen Jägern, Fischern und Sammlern: Auf dem Menü stehen Eier von Schneegänsen, arktischer Saibling und Steinbutt, Rentier-Fleisch, frische Wild-Entenbrust und die Innereien von Robben. Manches ist über dem offenen Feuer gebraten und gegart, manches roh. Gewürzt wird mit jenen Kräutern des Nordens, die er am selben Morgen in der Wildnis eingesammelt hat.
»Schon mal echtes Robbenfleisch mit Grünzeug probiert?«, fragt Jeremy mit zwinkernden Augen. Ich halte einen Moment inne: Soll ich das Fleisch tatsächlich probieren?
Na klar! Es hat eine dunkle Farbe, ist etwas sehnig und ich brauche einen Moment, um mich daran zu gewöhnen. Gebraten schmeckt es ein wenig herb, fast wie Rinderleber mit einem säuerlichen Nachgeschmack. Als ich das Fleisch roh zu mir nehme, schließe ich meine Augen, schlucke – und bin durchaus überrascht. So viel anders als Sushi schmeckt es gar nicht, vielleicht ein wenig fleischiger und strenger. Auch in Whitehorse, Yellowknife und St. John’s zaubern die Köche aus den Zutaten der Tundra hochwertige Mehrgangmenüs mit nordischem Touch. Ob gefüllter Saibling, Elchragout oder Rentierlende mit frittierten Waldflechten: Die kulinarischen Nächte unter der Mitternachtssonne umschmeicheln unsere Geschmacksnerven immer wieder aufs Neue. Atii niriliqta sagen die Inuit, frei übersetzt: Guten Appetit!