Tiefblaues Meer, sattgrüne Wälder und Bewohner, die an Freundlichkeit schwer zu überbieten sind. Neufundland kann man auf den ersten Blick mit Irland verwechseln. Auf den zweiten jedoch offenbart die kanadische Insel ihr ureigenes Temperament, auch wenn man es mitunter suchen muss.
Von Gastautor Andreas Dauerer
Wasser spritzt in mein noch müdes Gesicht, kühler Fahrtwind pfeift an meinen Ohren vorbei. Endlich einmal kann die Kapuze meiner Jacke ihren eigentlichen Dienst verrichten. Vor Wasser und Kälte schützen. Keine fünf Minuten zuvor war es noch angenehm gewesen, obwohl um sechs Uhr morgens keine wärmende Sonne über Change Island lacht und ich kaum gefrühstückt habe. Aber ich bin gewissermaßen in freudiger Erwartung eines ganz besonderen Ereignisses auf der Nachbarinsel Fogo: das Fogo Punt Race.
Fogo Punt Race
Ein Ruderrennen mit eigenen, handgefertigten Holzbooten, den Punts, die einst fest mit der neufundländischen Fischerkultur verwoben waren und heute, wenn überhaupt, nur noch zum Spaß gebaut werden. Oder für das Punt-Rennen, das einmal im Jahr auf Neufundlands größter Insel abgehalten wird und deren Zweierteams die Strecke zwischen Fogo und Change über das offene Meer bewältigen müssen. Zehn Meilen, etwa 16 Kilometer. 16 Kilometer Schinderei, 16 Kilometer Sonne und Wind trotzen, den Schwielen an den Händen, dem Hintern und dem Rücken ein Schnippchen schlagen, die sich ziemlich sicher im Laufe des Rennens mindestens einmal melden werden. Bei manchen auch öfter und bereits nach zehn Minuten. Startschuss ist jedoch erst in viereinhalb Stunden. Und ich bin mit Jim Edwards und David »Dave« Diamond auf einem Motorboot in Richtung Fogo Island. »Everything okay«, brüllt Jim in meinen Rücken. Aber natürlich ist alles okay.
Wo findet das Punt Race genau statt?
Nach 15 Minuten legen wir drüben auch schon an, die beiden Freunde schnappen sich ihre hölzernen Ruder und befestigen sie auf dem Auto ihres Abholservice. Ehre, wem Ehre gebührt. Die beiden haben schließlich das Punt Race bereits einmal gewonnen und wurden je einmal Zweiter und Dritter. Ihre Prognose für heute? Mal schauen. Gesprächig sind die beiden selten. Es muss mit ihren Berufen zu tun haben. Jim ist Zimmermann, Dave Fischer. Noch wahrscheinlicher aber hängt es mit dem Ort und der Kultur zusammen, wo die beiden hineingeboren wurden. Kanada, Neufundland, Change Island. Eine Mini-Insel im Norden, um die 200 Menschen leben hier. Auf der etwa fünf Mal so großen Schwester Fogo sind es immerhin etwa 2.700, so ganz genau kann das niemand sagen. Fakt aber ist, dass kaum ein junger Mann das schwere Erbe der Kleinfischer weiterführen möchte. Ein kleiner Lichtblick ist da der Tourismus, der sich allmählich auch in Kanadas schönster Provinz breitmacht.
Jim und Dave bauen das Ruderboot eigenhändig
Gestern habe ich Jim und Dave auf eine Tasse Kaffee besucht. Beide beherrschen sie die Kunst des Punt-Bauens. Dazu braucht man ganz bestimmte, geschwungene Hölzer, die sich die beiden in den Wäldern suchen. Daraus schneiden sie dann zehn bis 14 Hauptrippen heraus. Das Grundgerüst für den Punt. Der Rest soll ganz einfach sein, wenn man den beiden zuhört. Einen Kiel darunter, und die Seiten werden mit Planken sauber aufgefüllt. Fertig. Wie lange ein Bau eines solchen, etwa sieben Meter langen Ruderbootes dauert? Drei Wochen. »Nur drei Wochen?«, frage ich. »Na gut«, sagt Jim. »Drei Wochen, wenn du jeden Tag Vollzeit daran arbeitest.« Das macht bei einem 14-Stunden-Tag knapp 300 Arbeitsstunden. Abgedichtet wird ein solches Boot mit Sisal, das zwischen die Fugen gequetscht wird. Anschließend wird es lackiert. Mit den traditionellen Punts fuhr man früher tatsächlich zum Fischen hinaus.
Dürfen wir vorstelle: Fogo Island
Jeder Fischer wusste, wie man sie baut. »Nein«, sagt Jim, »eigentlich konnte jeder sich hier einen Punt bauen «. Irgendwann aber drängte die Industriefischerei die kleinen Betriebe in die große Rezession. Auf einmal war ihre Lebensgrundlage, der Kabeljau, nicht mehr so reichlich in den nährstoffreichen Gewässern. Was folgte, war ein Fangverbot 1992 – und eine große Depression. Viele mussten umdenken und flüchteten sich in andere Jobs. Mit dem Aussterben der Fischer blieb auch das Bootsbauhandwerk auf der Strecke. Das gilt für die kleinen Fischereiorte Neufundlands ganz allgemein, ganz besonders aber für Change und Fogo. Letztere ist die bekanntere Insel, aber nicht aufgrund ihrer Größe, sondern inzwischen vor allem, weil es dort Zita Cobb gibt. Die agile Mittfünzigerin, geboren und aufgewachsen auf Fogo Island, bringt jede Menge Verve auf die Insel. Und Geld, das sie im Silicon Valley mit einer Firma in der Glasfaserindustrie verdiente und sie zu einer der bestverdienenden Managerinnen aufsteigen ließ.
Von der Glasfaser zum Hotelzimmer
Doch sie hatte anderes im Sinn als eine endliche Karriere. Mit Anfang vierzig, auf dem Zenit ihres Erfolges, verkaufte sie ihre Firmenanteile und wurde auf einen Schlag um knapp 70 Millionen Dollar reicher. Genug Geld, um sich auf die faule Haut zu legen. Zita aber durchsegelte mit einer 15-Meter-Yacht vier Jahre lang die Weltmeere. Nur weil man ihr drohte, das ehemalige Elternhaus abzureißen, kam sie wieder auf ihre Heimatinsel zurück. Seit 2006 ist sie wieder da und möchte den Bewohnern jetzt Anreize bieten, um hier weiter leben und bestehen zu können. Auch abseits der Fischerei. Ihr Luxushotel, das Fogo Island Inn, ist seit Frühjahr 2013 fertiggestellt. Sie hat dafür überwiegend auf lokale Rohstoffe gesetzt, auch die Arbeitskräfte wohnen in der Region. Ebenso achtete sie akribisch darauf, dass es ökologisch wird und irgendwann auch Rendite abwirft.Ersteres hat sie geschafft, aber ob es jemals profitabel laufen wird, muss sich noch erweisen.
Dennoch ist es unglaublich, mit wie viel Elan Zita vorangeht. Die Mitarbeiter des Hotels sind natürlich aus Fogo und Neufundland. Anderen Geschäften verhilft sie mit Mikrokrediten zum erhofften Startschuss. »Ich bin sehr froh, dass es diese Möglichkeit gibt«, sagt eine zufriedene Nicole Decker. Ihr gehört das gleichnamige Bar & Bistro in Joe Batt’s Arm, wo sie eine gehobene lokale Küche anbietet. Die Rechnung scheint aufzugehen, die steigenden Besucherzahlen geben ihr recht.
Gutes Tun und darüber reden
Daneben unterstützt Zita mit ihrer Foundation Kunst und Kultur. Jährlich können sich etwa zwölf Künstler aus den verschiedensten Bereichen für ein halbjähriges Stipendium bewerben. Sie erhalten freie Kost und Logis und zudem ein Atelier, wo sie an ihren Projekten arbeiten können. Natürlich sollen diese mit der Insel etwas zu tun haben. Wahrscheinlich nennt man das moderne PR. Aber über Kunst und Kultur wird berichtet, und das wiederum kann dem Tourismus sehr förderlich sein. Fragt man jedoch den passionierten Autoren und alten Fischer Roy Dwyer über die neuen Taten auf der Insel, dann flüchtet er sich erst einmal in Schweigen. »Die Architektur des Hotels gefällt mir nicht«, lautet seine schmallippige Antwort. »Letztlich geht es hier auch um Profit«, so der alte Fischer weiter.
Nach einer kurzen Pause kommt dann aber noch ein Aber. Es sei natürlich gut, dass jetzt viele Arbeit hätten, dass sie vermehrt auf der Insel blieben, dass die alte Kultur wieder ein wenig hochgehalten werde, wie dieser Tage mit dem Punt Race. Aber es sei eben doch eine neuartige Erfindung, die nicht direkt mit den tradierten Werten, mit dem gewöhnlichen Aufwachsen in unmittelbarem Zusammenhang stehe. Neues macht auch hierzulande die Menschen erst einmal skeptisch.
ZURÜCK ZUM PUNT RACE auf Change Island
Mittlerweile füllt sich der kleinen Hafen von Joe Batt’s Arm. Nicole verkauft heute Gebäck und Kabeljau-Brötchen, daneben stehen ein Getränkestand und ein kleines Zelt, das vom starken Wind heftig verbogen wird. Zwei Stunden noch, dann soll das Rennen starten. Es herrscht emsige Betriebsamkeit bei Jim und Daves Gegnern. Die Punts liegen noch auf dem Trockenen, und die Teams vollführen emsig die letzten Handstriche. Sitzkissen werden mit Klebeband fixiert, Handschuhe noch einmal anprobiert.
Ein Blick aufs Boot
Einige altgediente Punt-Racer schmieren sich Fett unter die Achseln, um sich nicht wundzureiben. Auch stecken mittlerweile fast alle Ruderteams in Funktionskleidung. Atmungsaktiv, den Schweiß transportierend und ungeheuer eng sitzend. Jim und Dave scheint das alles nicht zu stören. Im Gegenteil, fast teilnahmslos blicken sie aufs Wasser und ihr Boot. Dave hat es vor ein paar Jahren gebaut. »Nicht ganz so gut, wenn starker Seegang herrscht«, sagt Dave. Der Bug ist etwas höher und der Corpus breiter als der der Konkurrenz. Bei ruhiger See jedoch ziemlich schnell, weil es gut gleiten kann. »Und was sagst du zum aufgewühlten Meer heute?« Dave zuckt nur mit den Achseln, ändern könne man jetzt ohnehin nichts mehr. Da stehen sie nun, die beiden Freunde. In Jeans, mit Hemd und einer Kappe auf dem Kopf. Polster, Handschuhe, Fett? Da lachen die beiden nur. Ebenso auf die Frage des hiesigen Lokal-Fernsehsenders.»
Daumen drücken für Jim und Dave
Jim, wie wir hörten, bist du ein ganz guter Ruderer.« Antwort: »Das würde ich nicht behaupten.« Gefolgt von einem heiseren Lachen. Natürlich zählen sie zum Favoritenkreis. Umso ungewöhnlicher, dass den beiden das alles am Allerwertesten vorbeizugehen scheint. »Seit dem letzten Jahr haben wir nicht mehr gerudert«, erzählt Jim. Ein Jahr Pause also. Durchtrainiert wie Modellathleten sind sie nicht, aber gestählt von ihrer täglichen Arbeit mit Holz und Fisch. Die Arme sind kräftig, die Hände schwere Pranken. Irgendwann fällt der Startschuss, und die 15 Teams lassen ihre Ruder ins Wasser platschen. Zug um Zug. Diesmal geht es nicht nach Change Island. Die See ist zu rau, man rudert entlang der Küste, an der Shoal Bay vorbei, das Fogo Island Inn stets als Kulisse im Hintergrund. Diesmal sind es nur sieben Meilen, etwa elf Kilometer. Jim und Dave schieben sich schnell auf den zweiten Platz. Im ersten Boot sitzen zwei klobige Athleten aus Fogo, die mittlerweile in St. Johns leben, der Hauptstadt Neufundlands.
Ein Rennen gegen die naturgewalten und den eigenen willen
Ihre Oberarme fühlen sich im tiefblauen Synthetikstoff offenbar arg eingezwängt. Das Meer wird merklich rauer, als die Punts die Bucht von Joe Bat’s Arm verlassen. Über eine Stunde wird es dauern bis zur Boje. Gegenwind. Wer hier einmal das Rudern sein lässt, wird sofort von der erbarmungslosen See zurückgedrängt. Die blauen Synthetikmänner gewinnen an Distanz. Dann kommen Jim und David in Zivil, dann lange nichts. Einige Ruderer treiben weit ab, geben alles und hören doch auf. Wer nicht selbst in einem Punt gesessen hat, wird wohl niemals sagen können, wie hart das Rennen tatsächlich ist. Die erste Pause können die Teilnehmer erst an der Boje machen. Kurz etwas trinken, dann geht es den Weg wieder zurück.
Siegertreppchen
1:50 wird später auf der Uhr stehen, die blauen Muskelpakete haben ganze Arbeit geleistet. Jim und Dave schaffen das Ganze in zwei Stunden und 18 Minuten. Ich muss mit dem Hilfsboot noch einmal hinaus. Aus Sicherheitsgründen. Jedes Punt hat quasi einen Eskortierservice, damit auch den Ruderanfängern wirklich nichts passiert auf hoher See. Neun Punts schaffen es zurück ins Ziel, das letzte mit einer Zeit von drei Stunden und 28 Minuten. Die anderen werden nach Hause geschleppt. Drei davon haben es nicht bis zur Boje geschafft. Als ich Jim und Dave zu ihrem zweiten Platz gratuliere, haben sie sich längst erholt. Lediglich die Hände haben etwas abbekommen, aber weitaus weniger als beim letzten Mal. Ehrlich, den fischererprobten Pranken sieht man ihre Tortur fast überhaupt nicht an. Zwei Blasen, eine davon aufgesprungen, sieht man bei Dave, und ein fast identisches Bild bei Jim. Ein bisschen Geld gibt’s natürlich auch für die Zweitplatzierten. 1 500 kanadische Dollar. Bei Fifty-Fifty für jeden ist das immer noch mehr, als beide am Tag verdienen können. Sehr viel mehr.
Teamgeist
»Ein guter Sonntag«, schmunzelt Jim. So richtig wichtig nehmen die beiden den ganzen Trubel immer noch nicht. Natürlich hätten sie gerne gewonnen, aber die anderen beiden waren einfach zu stark gewesen. Anerkennung und Schulterzucken, mehr ist nicht drin. Dann wuchten sie gemeinsam mit ein paar anderen Punt-Racern das weiße Boot auf Daves Pick-up. Fast die Hälfte ragt in die Straße, die andere wird mit Seilen fixiert. »Die paar Meter hält das schon«, sagt Dave. Vorher aber bastelt er sich noch ein kleines Schild. »For Sale« steht darauf. Zu verkaufen. »Magst du nicht einsteigen ins Punt-Race-Business?«, scherzt Dave. 3000 Dollar soll es kosten, zwei Jahre alt ist es bereits. Und natürlich ein Gewinnerboot. Irgendwann heißt es dann Abschied nehmen. Ich fahre mit Daves Frau im Jeep und dem Boot im Rücken, die beiden Ruderer mit ihrem Boot wieder zurück nach Change Island.
Schließlich müssen sie morgen wieder arbeiten. Gemeinsam. Auf dem Schiff. Denn die Kabeljau-Saison ist wieder eröffnet worden, und was gibt es Schöneres, als den berühmten neufundländischen Cod zu fangen, ihn auszunehmen, das Rückgrat rauszubrechen, ihn zu salzen und dann zum Trocknen auf dem Steg auszubreiten? Die Fischer lachen, und wir Touristen freuen uns ebenso, wenn wir ihn wieder regelmäßiger auf dem Teller haben.
Info
Unterkunft. Luxuriös logiert man im Fogo Island Inn. Die kleinste Suite mit 32 Quadratmetern ist ab € 381 die Nacht zu haben. Ab € 1335 die Nacht kostet die knapp 80 Quadratmeter große Justegan Suite, die bis zu vier Personen aufnehmen kann. Webseite Fogo Island Inn
Info. Allgemeine Infos über Neufundland im Internet unter: Info-Seite Neufundland-Labrador-Tourismus
Buchen. Lernen Sie Neufundlands schönste Seiten in den spektakulärsten und außergewöhnlichsten Unterkünften kennen! Beispielsweise wird auf Quirpon Island in einem Leuchtturm genächtigt und tagsüber vorbeiziehenden Eisberge bestaunt. Absolutes Highlight ist der Aufenthalt im Fogo Island Inn auf der gleichnamigen Insel, die nur per Fähre erreichbar ist und vor der nordöstlichen Küste Neufundlands liegt. Im puristischen auf Felsen erbauten Hotel werden Sie herzlich Willkommen geheißen.