Bei den Rechten für Lesben, Schwule und Transgender-Personen ist Kanada weltweit ein Vorreiter. Jetzt gibt es sogar einen geschlechterneutralen Reisepass. Von Jörg Michel
Kanada ist ein sympathisches Land. Und liberal ist es auch. Vor allem gilt das für Justin Trudeau. Der Premier mit Popstarqualität marschiert regelmäßig auf Christopher-Street-Day-Paraden mit. Er geht entspannt mit Marihuana um und will die Droge nächstes Jahr legalisieren. Er heißt Fachkräfte aus aller Welt mit offenen Armen willkommenund das Einwanderungssystem seines Landes gilt als eines der fortschrittlichsten der Welt.
Nicht Mann, nicht Frau, einfach X
Eine weltweite Vorreiterrolle nimmt das Kanada des Justin Trudeau auch in Sachen Geschlechterrollen ein: Seit dem 31. August können Kanadier, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlen oder sich aus persönlichen Gründen nicht auf ein Geschlecht festlegen wollen, auf ihrem Reisepass eine neutrale Option angeben: das so genannte dritte Geschlecht, symbolisiert durch den Buchstaben »X«.
Das hilft vor allem Transgender-Personen, die sich mit ihrem zugewiesenen Geschlecht nicht identifizieren können, und Intersexuellen, die keine eindeutigen Geschlechtsmerkmale besitzen.
»Alle Kanadier sollten sich sicher fühlen, sie selbst zu sein. Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung Gleichberechtigung, unabhängig davon, wie sie ihr Geschlecht definieren und ausdrücken«, erklärte Trudeaus Einwanderungsminister Ahmed Hussen.
Der neue Reisepass ist bereits der zweite Schritt der Liberalisierung: Wenn Besucher, die nach Kanada reisen wollen, zuvor die elektronische Einreisegenehmigung beantragen, dann können sie seit einigen Monaten beim Geschlecht neben »männlich« und »weiblich« auch »sonstiges« ankreuzen. Fortschrittlich!
Mit der Einführung des dritten Geschlechts löst Trudeau ein Versprechen aus dem Wahlkampf ein. Schließlich hatte er in einem eigenen Videospot gezielt um die Stimmen der kanadischen Transgender-Wähler geworben. Welcher Regierungschef auf der Welt kann das schon von sich behaupten! Als erster Premier des Landes hat er auf dem Parlamentsgelände in Ottawa die Regenbogen- und Transgenderfahne hissen lassen.
Die Provinzen ziehen nach
Da wollen die Provinzen, die in Kanada für Erziehung und Soziales zuständig sind, nicht hintenanstehen. In Ontario etwa wurden Geschlechtsangaben auf Führerschein und Versichertenkarten gestrichen. In British Columbia können Transgender-Personen das Geschlecht auf der Geburtsurkunde ändern lassen, auch wenn sie sich nicht einer Geschlechtsoperation unterziehen. In Alberta müssen Schulen geschlechtsneutrale Toiletten einrichten und Lehrer werden angehalten, im Unterricht geschlechtsneutrale Formulierungen zu verwenden.
Doch nicht genug. Im Frühjahr hat das kanadische Parlament auf Geheiß Trudeaus zudem ein neues Menschenrechtsgesetz zu Gunsten von Transgender-Personen verabschiedet. Das schreibt jetzt erstmals verbindlich fest: In Kanada darf niemand vom Staat wegen seiner geschlechtlichen Identität oder seinem Geschlechtsausdruck benachteiligt werden. Hasspredigten gegenüber Transgender-Personen sind illegal. Verbrechen, die auf Vorurteilen oder gar Hass beruhen, werden schärfer bestraft als bisher.
In der Praxis
Konkret wird das neue Gesetz dazu führen, dass neben Schulen immer mehr staatliche Einrichtungen und Behörden in Kanada geschlechterneutrale Toiletten, die allen Geschlechtern gemeinsam offenstehen, einführen werden. Transgender-Beamte haben einen einklagbaren Anspruch auf einen diskriminierungsfreien Arbeitsplatz. Gefängnisse müssen Strafgefangene gemäß ihrer Geschlechtsidentität unterbringen.
Erstaunlich ist, wie wenig Widerstand es in Kanada gegen diese Reformen gibt. Eine große Mehrheit der Kanadier unterstützt Trudeaus liberale Politik. Und die hat Tradition. Unter Trudeaus Vater Pierre Elliott, dem 15. Premierminister Kanadas, wurden 1969 homosexuelle Handlungen weitgehend entkriminalisiert. Trudeau Seniors Begründung ist bis heute legendär:
»In den Schlafzimmern der Nation hat der Staat nichts zu suchen«, sagte er.
Sexuelle Minderheiten werden seit 1982 von einem weitreichenden Grundrechtekatalog geschützt.
Vorreiterrolle
Auch im Militär geht es in Kanada sehr weltoffen zu. Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender-Menschen dürfen seit 1992 in Armee, Marine und Luftwaffe dienen und das soll auch so bleiben. In den USA dagegen will Präsident Donald Trump Transgender im Militär wieder verbieten. Krasser könnte der Unterschied zwischen den Regierungschefs in Kanada und den USA derzeit kaum sein!
Im Jahre 2005 öffnete Kanada zudem die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare – als erstes Land außerhalb Europas und als viertes Land weltweit. Lesben und Schwule können seitdem auch gemeinsam Kinder adoptieren. Ab Oktober kommt die Ehe für Alle nun auch in Deutschland, zwölf Jahre später als das in Kanada der Fall war. Höchste Zeit kann man da nur sagen! Happy Pride und danke Kanada!