Ein Fels mit dramatischen Klippen gilt als das Wahrzeichen der Stadt Thunder Bay am Nordufer des Lake Superior. Für die Ureinwohner ist der Berg heilig. Und im Herbst, ja im Herbst, ist es hier wunderschön.
Text: Jörg Michel
Die Legende
Einst lebte am Ufer des Lake Superior ein mächtiger Geist. Er hieß Nanabozho, frei übersetzt: »unser liebster Geist«. Dort lebte er friedlich und unbehelligt mit seinem Volk, bis er unter ein paar Felsbrocken ein leuchtendes Metall entdeckte: Silber. Schnell vergrub er den Schatz wieder und betete inständig, dass die Menschen ihn nicht entdecken würden.
Doch schon wenig später näherten sich fremde Männer in einem Kanu und der Geist bekam Angst. Nanabozho wollte sein Volk schützen, also erzeugte eine Sturm und versenkte das Kanu im See. Damit rettete er sein Volk – nicht aber sich selbst. Denn der Wettergott fand das gar nicht lustig und verwandelte den Geist zur Strafe in einen riesigen Felsbrocken.
Seit jenem Tag liegt Nanabozho zu einem Felsen erstarrt am Nordufer des Lake Superior und wacht über den See und seinen silbernen Schatz. So oder so ähnlich erzählen es sich jedenfalls die Angehörigen der Ojibwe-First-Nations, die seit vielen Jahrhunderten rund um die Großen Seen Nordamerikas leben. Und die müssen es ja wissen, oder?
Spurensuche in Thunder Bay
An einem Herbstmorgen mache ich mich auf die Suche nach dem Geist und seinen Schatz. Ich stehe unweit der Stadt Thunder Bay an einem Aussichtspunkt am Trans-Kanada-Highway, der auf rund 700 Kilometern am Nordufer des Lake Superior entlangführt. Noch liegt der See im Morgennebel und das Ufer ist nur schwer zu erkennen.
Doch nach einer Weile hebt sich der Dunst. »Hier, hier«, ruft mir eine Mitreisende zu. Tatsächlich! Ich schaue durch mein Fernglas und in meinem Blickfeld taucht ein markanter Tafelberg auf. Er sieht aus wie ein liegendes Wesen. Erst erkenne ich einen Kopf, dann einen Adamsapfel, eine Nase, und lange Beine. Das muss Nanabozho sein!
Ab auf den schlafenden Riesen!
Die Europäer haben ihn später Sleeping Giant getauft und heute gehört der Berg zu den wichtigsten Attraktionen auf der kanadischen Seite des Lake Superior. Geologisch besteht er aus Vulkangestein und ragt vor Thunder Bay wie eine Halbinsel in den See. Vor ein paar Jahren kürten die Kanadier ihn zum größten Naturwunder ihres Landes. Nichts wie hin also!
Eine Autostunde später taucht am Straßenrand ein blaues Schild auf: Sleeping Giant Provincial Park. Von hier aus kann ich jetzt den Rumpf und Kopf des Giganten selbst erklimmen. Drei schweißtreibende Kilometer lang geht es in Serpentinen immer steil bergauf, erst im Wald, dann im Gebüsch, auf über 500 Höhenmeter. Doch die Mühe lohnt sich.
Vom Gipfel des Giganten habe ich einen wunderbaren Blick über die Weiten des Lake Superior, dem nach dem Kaspischen Meer flächenmäßig zweitgrößten Binnengewässer der Erde. Gegenüber erkenne ich in der Sonne die Hochhäuser der Stadt Thunder Bay. Vor der Küste ankern Dutzende Frachtschiffe und Tanker, am Horizont kreuzt ein Luxusliner.
Doch wo ist der Silberschatz?
Ich fahre ein paar Kilometer weiter auf einer engen Straße, dann finde ich ein Ortschild im Gebüsch: Silver Islet. Dieser Name kann kein Zufall sein! Und tatsächlich. Hier betrieb die Sibley’s Silver Islet Mining Company zwischen 1868 und 1884 einst die größte Silbermine Kanadas. Heute sind viele Gebäude verfallen.
Acht Menschen wohnen heute noch in Silver Islet. Das Silber aber, das ist größtenteils weg. Die Minen sind leer, das Geschäft lohnt sich nicht mehr. Nanabozho hat seine Ruhe gefunden. Als sich der Himmel rosarot färbt, taucht sein Torso am Horizont auf. Dünne Wolkenschleier haben sich um ihn gelegt wie eine Daunendecke. Der Geist ist Schlafen gegangen.
Wie komme ich dorthin?
45-Autominuten nördlich der US-amerikanischen Grenze liegt Thunder Bay am Lake Superior quasi im geographischen Zentrum Kanadas. Autofahrer gelangen über die Ontario Highways 11, 17 und 61 in den Ort. Aus Toronto, Winnipeg oder weiteren Destinationen aus Nord-Ontario könnt ihr via Inlandsflug den Thunder Bay International Airport erreichen. Außerdem werden diverse Bootstouren über die Großen Seen (Great Lakes) angeboten, die auch in Thunder Bay anlegen. Für private Boote bestehen im Hafen des Ortes ebenfalls Anlegemöglichkeiten.