Vancouvers populärster Park hat eine reiche indigene Geschichte. Auf geführten Touren kann man mehr über das kulturelle Erbe der First Nations erfahren und hier im Stanley Park den Herbst in voller Pracht genießen.
Text: Jörg Michel
Ein Besuch in Vancouver ohne einen Spaziergang im Stanley Park? Unvorstellbar. Wann immer ich in die Pazifikmetropole komme: Es zieht mich sofort wie magisch in Kanadas größten Stadtpark, der wie eine riesige, flache Hand in die Gewässer des Burrard Inlet reicht. Hier kann ich entspannen, meinen Frieden finden und den Tag einfach mal gut sein lassen.
Auf den Spuren der Squamish
Wes Nahanee geht es ähnlich. Er lebt in North Vancouver und auch er kommt regelmäßig in den Park mit den riesigen Rotzedern, den Seen und Gartenanlagen. Wes gehört zu den Squamish-First-Nations und seine Vorfahren sind schon durch das Gelände gestreift, als es die Stadt Vancouver noch gar nicht gab. »Dieses Land ist Balsam für meine Seele«, erzählt er mir.
Ich treffe Wes an einem Sommertag an der Seawall Promenade. Das ist jener populäre Uferweg, der den Park auf rund neun Kilometern umrundet. Von hier haben wir einen tollen Blick auf die Skyline von Vancouver, auf die schneebedeckten Coast Mountains und die elegante Lions Gate Bridge, die an der Spitze der Halbinsel über das Burrard Inlet führt.
Eigentlich kenne ich den Park wie meine eigene Westentasche. Unzählige Male schon bin ich hier entlang spaziert, gejoggt oder mit dem Fahrrad gefahren. Ich weiß, dass der Park als solcher 1888 gegründet wurde, nach dem sechsten Generalgouverneur Kanadas, Lord Stanley, benannt wurde und heute die am meisten besuchte Sehenswürdigkeit in British Columbia ist.
Ein Stadtpark mit großer Bedeutung
Doch ich weiß nur wenig darüber, wie die Ureinwohner den Park sehen, auf dessen Land die First Nations über 3.000 Jahren gelebt haben, lange bevor die ersten weißen Entdecker auftauchten. Umso mehr freue ich mich, dass mich Wes heute mitnimmt zu einem geführten, eineinhalbstündigen Rundgang, den er »Spoken Treasures« nennt: erzählte Kostbarkeiten.
Schnell begreife ich, dass der Park auch für Wes und sein Volk kostbar und einmalig ist.
»Wenn wir Mal Probleme haben oder uns generell Gedanken über unser Leben machen wollen, dann kommen wir gewöhnlich hierher«, erzählt er mir. »Dann legen wir uns zum Nachdenken unter einen großen Zedernbaum. Das hilft uns weiter.«
Denn der Park steht für Ureinwohner wie Wes für die Einheit von Mensch und Natur. Das betrifft die Bäume, aber auch die Pflanzen und Tiere im Park: die Biber, Kojoten, Adler oder, früher einmal, die Grizzlybären, die auch hier einst durch die Regenwälder streiften. Die Tiere sind wichtige Familiensymbole und man findet sie auf indigenen Wappen oder Totempfählen.
Tolle Totempfähle
So auch am Brockton Point, dem populärsten Ziel im Park. Neun Totempfähle mit prächtigen, geschnitzten Tiersymbolen wurden dort aufgestellt. Wes legt Wert darauf, dass die meisten Totems nicht etwa von lokalen First Nations stammen, sondern einst von den Weißen aus fernen Orten wie Haida Gwaii hierhergebracht wurden. Beindruckend aber sind sie allemal.
Von lokalen Schnitzern geschaffen sind dagegen die drei großen Portale am Brockton Point, erzählt Wes. Sie zeigen unter anderem Lachse, von denen die Ureinwohner im Stanley Park einst lebten. Auf den Toren sieht man auch geschnitzte Menschenfiguren. Sie strecken ihre Arme aus und haben ihre Hände geöffnet. »Das ist unser traditioneller Willkommensgruß.«
Geschnitzt wurden die Tore und Totems aus uralten Riesen-Zedern, die einmal auf der ganzen Halbinsel zu finden waren, bevor viele von ihnen im 19. Jahrhundert von Holzfällern umgesäbelt wurden. Aus den Zedern schufen die First Nations auch riesige Kanus, aus ihrer Rinde fertigten sie Körbe und Hüte, aus dem Sägemehl heilende Salben und Cremes.
Historisches Sightseeing
Siedlungen und Camps der Ureinwohner gab es mehrere im heutigen Stanley Park, erklärt Wes. Auch am Brockton Point, nicht weit entfernt vom berühmten »Nine-O’Clock-Gun«. Dabei handelt es sich um eine wuchtige Kanone aus dem Jahre 1816, die heute täglich um neun Uhr abends unter dem Applaus von Hunderten Besuchern abgefeuert wird.
Am Lumberman’s Arch, einem Holzfäller-Denkmal aus dicken Baumstämmen, stand einst das Dorf Xwayxway, der »Ort der Masken«. Es war die größte indigene Siedlung auf der Halbinsel mit einem prächtigen Long House für Familienfeste. Heute sieht man davon nichts mehr. Ende des 19. Jahrhunderts musste das Dorf dem Ausbau des Parks weichen.
Einer meiner Lieblingsorte für den Herbst im Park ist auch der Beaver Lake, ein See mit Seerosen und einem aktiven Biber, der so ziemlich alles anknabbert, was irgendwie hölzern ist. Dort habe einst seine Großmutter ein Haus besessen, erzählt mir Wes. Eine vorgelagerte Insel, die heute Dead Man’s Island heißt, war lange ein Friedhof für Häuptlinge.
Zum Abschluss unseres Herbst-Spazierganges packt Wes eine kleine Trommel aus seinem Rucksack. Er wirbelt los und singt dazu ein Lied, mit dem sein Volk Besucher aus aller Welt auf ihr Land einlädt. Wes ist dankbar, dass der Stanley Park nach vielem Auf und Ab heute geschützt ist. Als eine grüne und kulturelle Oase, in der auch das Erbe seiner Ahnen ihren Platz hat.